International Justice Mission

Oktober 2018 / Seite 3 von 3

Es geht also um das Image eines fairen Kapitalismus?

Es geht um einen Kapitalismus mit ethischen Grenzen. Auch in Deutschland leben wir wohlgemerkt in einem kapitalistischen System, das allerdings über die Jahrhunderte gezähmt worden ist. Heute haben wir hier Gewerkschaften, Institute, eine funktionsfähige Zivilgesellschaft. Der Kapitalismus hat sich also bis zu einem gewissen Grad einen ethisch-moralischen Rahmen gegeben. Das sieht in anderen Ländern noch anders aus. Und da sehen wir immer wieder, dass solche ethisch-moralisch unbegleiteten Systeme in brutale Ausbeutung abgleiten, wenn die Gewinnmaximierung der einzige Standard ist.

Halten Sie die Zähmung des Kapitalismus prinzipiell für möglich? Oder produziert dieses System zwangsläufig Ausbeutung?

Ich bin jetzt seit 30 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Ich habe viel Elend gesehen, aber immer auch viel Hilfsbereitschaft. Ich sehe es also nicht ganz so pessimistisch. Und ich denke auch nicht, dass der Sozialismus per se gut und der Kapitalismus per se schlecht ist. Dieses Schwarz-Weiß gibt es nicht. Aber wir müssen immer wieder – egal in welcher Situation wir gerade sind – darum ringen, dass das Gute überhandnimmt und das Böse besiegt. Natürlich kann man darüber reden, wie gut oder schlecht die Lage ist, aber es gibt in Deutschland immerhin eine Sozialabsicherung, die verhindert, dass Menschen ins Bodenlose fallen. Dass sie eben nicht ohne Ende ausgebeutet werden können. Man wird nie das Böse in der Welt besiegen können. Aber es wird immer auch das Gute geben. Und das eröffnet dann die Frage, auf welche Seite man sich stellt.

„Wenn wir etwas besonders billig bekommen, dann nur deswegen, weil jemand anderes auf der Welt den Preis dafür bezahlt. Entweder zahlt der Verbraucher oder der Ausgebeutete.“

Nun findet Sklaverei ja vor allem in Ländern statt, die nicht nur unserem Blickfeld entrückt sind, sondern auch unserer Kultur fremd sind. Trotzdem müssen Sie sich als Organisation hier mit den Gegebenheiten auseinandersetzen, ohne unbedingt die Autorität zu haben.

Richtig. Deshalb arbeiten wir auch zu 95 Prozent mit lokalen Kräften zusammen; wir würden die Autorität über solche Entscheidungen nie einem Ausländer geben. Trotzdem hat man es beispielsweise in Ghana mit dem Phänomen zu tun, dass es etwa zum Thema Bildung und Schule kein Konzept gibt. Da heißt es dann: Naja, wenn Kinder arbeiten gehen, dann lernen sie – und so war es schon immer. Dagegen gehen wir an. Ich selber habe einen sozialanthropologischen Hintergrund, und da gibt es nur eine Kultur, die sich nicht verändert, und das ist die Museumskultur. Selbstverständlich müssen wir uns davor hüten, kulturimperialistisch zu sein, was immer dann geschieht, wenn eine Kultur versucht, die andere zu dominieren. Kulturelle Veränderungen dagegen brauchen wir alle. Auch unsere deutsche Kultur verändert sich laufend, und in Ländern wie Indien ist das ebenfalls der Fall. Zwar ist dort das Kastensystem immer noch sehr ausgeprägt, aber gleichzeitig gibt es dort eine Regierung, die das Land als modernen Staat versteht und die traditionellen Verhältnisse nicht mehr will. Seit 1950 gibt es dort ein entsprechendes Gesetz, und daran muss sich die Kultur langsam anpassen. Das gilt auch für das Thema Frauenrechte, was beileibe keine spezifisch indische Frage ist.

Weil man überall auf der Welt von männerdominierten, patriarchalischen Strukturen ausgehen kann, die Gewalt gegen Frauen begünstigt?

Genau. In ganz Südasien gibt es bereits Gesetze, die Gewalt gegen Frauen verbieten. Und es ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft und der Regierungen, diese Rechtslage durchzusetzen. Hier muss man eine Bewusstseinsänderung schaffen, die wiederum bei der Bildung in den Schulen anfängt. Das Bild der Frau verändert sich nicht von heute auf morgen, aber wir erkennen schon, dass den Tätern zunehmend bewusst wird, dass ihre Taten eben nicht kulturell legitimiert sind und dass sie kriminelle Handlungen begehen, die eigentlich bestraft gehören.

Wie soll in Ihren Augen ein weltweit gültiges Vertragswerk aussehen, das der Sklaverei nachhaltig Einhalt gebieten kann?

Wir haben bereits einen ethisch-moralischen Kompass, der weltweit gültig ist, und das sind die Menschenrechte. Die fangen bekanntlich damit an, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Dass das kulturell kontextualisiert umgesetzt werden muss, ist unstrittig. Aber die Tatsache, dass dieser Satz existiert, ist zunächst einmal ein klares Zeichen dafür, dass auch dieser Kompass existiert. Und aus diesem Kompass entwickelt sich das Recht, das auch global durch die UN und ihre Mitgliedsstaaten anerkannt und verpflichtend ist. Wenn das nicht so wäre, könnte der sogenannte Islamische Staat ja auch recht damit haben, wenn er sagt, dass es seiner inneren Struktur und seinem religiösen Glauben nach auf seinem Territorium völlig legitim ist, sich jesidische Frauen als Sklavinnen zu halten und Ungläubige umzubringen. Hier sagt die Weltgemeinschaft aber auch nicht: Na gut, wenn das bei euch eben so ist.

Das ist aber ein extremes Beispiel.

Nicht unbedingt. Das kann man auf viele andere Situationen übertragen. Es gibt Kulturen, die behaupten, die Ausbeutung von Frauen sei rechtens, weil Frauen minderwertiger seien als Männer. Das könnte man legitimieren, indem man sagt: Die Kultur sieht das halt so. Oder man kann sagen: Nein, es gibt ein globales Recht, das Frauen auch in diesen Gegenden schützt. Die Menschenrechte sind wohlgemerkt nicht aus einem kolonialen Machtbewusstsein heraus entstanden. Sie sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Eindruck heraus entstanden, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie sich auf einen gemeinsamen ethisch-moralischen Kompass einigt. Dass der heute von Populisten infrage gestellt wird, ist eine Herausforderung, über die man noch reden muss. Die Trumps und die Erdogans dieser Welt nehmen durchaus wieder eine kulturimperialistische Sicht ins Blickfeld. Aber das sollte uns auf der liberalen Seite umso mehr dazu anspornen, darüber nachzudenken, was die Würde des Menschen global bedeutet – für Frauen, für Kinder, für Männer, für die unterschiedlichen Kulturen. Die eigenen ausbeuterischen Praktiken mit der Kultur zu legitimieren – das geht nicht. Genauso wenig ist es legitim, einem Dieb die Hand abzuhacken, nur weil das kulturell oder religiös so verankert sein mag. Und ganz nebenbei: Das Motiv des Kulturimperialismus war immer ein vollkommen anderes als die Etablierung einer globalen Grundlage für Menschenrechte.

Zur Person

Der Menschenrechtsanwalt Gary Haugen gründete International Justice Mission 1997 unter dem Eindruck des Völkermords in Ruanda. Die christliche Hilfsorganisation versteht sich seitdem als Kämpfer gegen Menschenhandel, Zwangsprostitution, Polizeigewalt und moderne Sklaverei und leistet politische Arbeit, Bildungsarbeit und Aufklärungsarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas, Südasiens und Lateinamerikas. Ohne Rechtssicherheit und wirksamen Schutz vor Gewalt, so die Philosophie von IJM, sind Ziele der Entwicklungszusammenarbeit wie der Kampf gegen Armut, Hunger und Krankheiten nicht nachhaltig zu erreichen. IJM beschäftigt weltweit inzwischen über 1000 Mitarbeiter und arbeitet unter anderem mit der Bill & Melissa Gates Foundation zusammen.

Teilen Sie dieses Interview:

Seite 3 von 3