International Justice Mission

Oktober 2018 / Seite 2 von 3

Woher kommt diese Erkenntnis?

Aus der Erfahrung. Wir arbeiten mit Hunderttausenden von Polizisten auf der Welt zusammen, wir schulen Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter – das ist eine unserer Hauptaufgaben. Hier erkennen wir, dass Korruption einerseits ein großes Problem ist, dass die Polizei andererseits aber auch vielerorts eine schlechte Ausbildung hat. Wir haben teilweise mit Polizisten zu tun, die drei Tage Ausbildung hatten und dann in einen Slum geschickt werden. Diese Polizisten machen immer die gleiche Erfahrung: Reiche Leute haben gute Anwälte, und ihren Verbrechen können auch meine Ermittlungen nichts entgegensetzen. Dadurch entsteht ein hohes Maß an Frustration, die dann oft zu Korruption führen kann, ein Kampf gegen Windmühlen, bei dem man dann irgendwann anfängt, lieber die Hand aufzuhalten. Wir kennen auch das Phänomen, dass ein Staatsanwalt Tausende Fälle auf seinem Schreibtisch hat, weil es zu wenige Staatsanwälte gibt. Die Situation ist also komplex, weshalb die Befreiung von Sklavenarbeitern erst der Anfang sein kann.

Was kommt danach?

Danach ist es wichtig, dass unsere Anwälte die Opfer vertreten und die Täter zur Anklage bringen. Oft ist es das erste Mal, dass es zu einer Verurteilung kommt. Das hat eine Leuchtturmwirkung, denn wenn Recht angewandt wird, beginnt sich das Rechtssystem zu verändern und die Straflosigkeit verliert. Das sendet auch eine Botschaft an die angesprochenen Geschäftsmodelle, nämlich: Das Risiko steigt – man kann für diese Dinge tatsächlich verurteilt werden. Wir hatten den Fall, dass 200 Menschen aus einer Ledervorproduktion in Südostasien herausgeholt wurden, und die erste Verurteilung des Täters führte zu einer Zahlung von acht Dollar Strafe. Das hat natürlich niemanden abgeschreckt, und zwei Wochen später hat der Sklavenhalter wieder 200 neue Leute beschäftigt. Wir sind aber drangeblieben, und es kam erneut zu einer Verurteilung, diesmal zu acht Jahren Gefängnis. Das hat in dieser Region alles verändert.

Das klingt aber, als ob die Lösung dieser Probleme durch Reformen von oben kommen müsste – nicht unbedingt durch die individuelle Opferhilfe.

Genauso ist es auch. Die individuellen Opfer sind nur der Anfang. Durch sie lernen wir, wo die Löcher in der Rechts-Pipeline sind. Gleichzeitig ist klar: Man muss irgendwo die Ärmel hochkrempeln und anfangen. Für uns ist das gleichzeitig die erste Lernkurve, denn hier erfahren wir etwas über die Ursachen der Sklaverei und ihre Hintergründe. Letztendlich arbeiten wir am Ende aber auf höchster Ebene mit Regierungen zusammen, um veränderte Rechtslagen zu schaffen, wo es notwenig ist. Wir arbeiten mit Spezialisten, um Rechtssysteme von innen heraus so zu bestärken, dass sie befähigt sind, ihren Aufgaben nachzukommen. Dazu schulen wir Polizisten, Staatsanwälte und Richter. Und wir können nachweisen, dass wir hier Erfolg haben. Wir sind auch schon aus Ländern wieder herausgegangen, weil es funktioniert.

Wo zum Beispiel?

Zum Beispiel aus Kambodscha. Als wir dort 2000 mit unserer Arbeit angefangen haben, war das Land ein Eldorado für pädophile Kriminelle. Die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen durch Ausländer war ein profitabler Geschäftsbetrieb, 20 bis 30 Prozent der Prostituierten in Phnom Penh waren minderjährig. Über zehn Jahre haben wir Schritt für Schritt darauf hingearbeitet, dass die lokale Polizei ihren Aufgaben nachkommt und gleichzeitig an der Rechtslage gearbeitet. Nach und nach kam es in dem Milieu zu Verurteilungen, wodurch das Risiko sowohl für die Sextouristen aus dem Ausland als auch für die Betreiber im Inland extrem gestiegen ist. Heute gehen wir von einer Situation aus, bei der nur noch ein Prozent der Prostituierten minderjährig ist und es für die Täter harte Strafen gibt. Dazu gibt es Hilfsangebote für betroffene Kinder und Spezialeinheiten bei der Polizei, die sich auf dieses Thema konzentrieren. Es gibt aber vor allem ein Verfahrenssystem, bei dem Kinder Psychologen gegenüber Aussagen machen können, ohne direkt mit dem Täter konfrontiert zu werden. Sensible Gerichte, die Aussagen auch so aufnehmen, dass sie glaubwürdig im Verfahren genutzt werden können. All diese Maßnahmen haben das System in den letzten zwölf Jahren verändert. Das heißt nicht, dass Kinderprostitution ganz verschwunden ist. Aber inzwischen bewegen sich die Zahlen wenigstens im globalen Mittelmaß und sind nicht mehr exorbitant. Dadurch zeigt sich einmal mehr: Natürlich brauchen wir auch Armutsbekämpfung, aber ohne Rechtssicherheit ist das alles nichts. Wenn wir die nicht haben, ist auch die Gefahr, dass Entwicklungshilfe nicht funktioniert, überproportional höher, als wenn es Rechtssicherheit gibt.

Sie brachten gerade ein Beispiel, bei dem ein Sklavenhalter befreite Arbeitskräfte sofort wieder anderswo beschafft. Hat man als hiesiger Konsument überhaupt einen Einfluss auf solche Geschäftspraktiken, oder neigt der globalisierte Markt immer zu Wildwuchs und Schlupflöchern dieser Art?

Eine Expertin auf dem Gebiet hat neulich gesagt, dass jeder Deutsche mit seinem Konsumverhalten über ein paar Ecken etwa 60 Sklaven beschäftigt. Das geht aus einer Erhebung aus dem Slavery Footprint hervor, die unter anderem fragt: Was ziehen wir an Textilien an? Wie benutzen wir unsere Elektronik, unsere Autos, unsere Kosmetik? Überall kann potenziell – meistens am Ende der Lieferkette – Sklavenarbeit enthalten sein. Coltan, Kobalt, Gold und Diamanten sind alles Beispiele für Mineralien, die hoch kontaminiert von Sklavenarbeit sind. Bei der Kleidungsproduktion muss man sagen, dass es inzwischen tatsächlich viele Großkonzerne gibt, die viel investieren, um nichts mit dieser Arbeit zu tun zu haben. Trotzdem gibt es in den produzierenden Ländern oft noch die letzte Meile, die unbearbeitet ist. Bei der Anwerbung von Näherinnen zum Beispiel hat man es immer noch oft mit Schuldknechtschaft zu tun. Wir glauben inzwischen, dass man nur etwas verändern kann, wenn die Zivilgesellschaft, die Politik und die Wirtschaft an diesem Punkt zusammenarbeiten.

Wie kann das aussehen?

Wirtschaftlich gesehen ist Deutschland eine Weltmacht. Das bringt ein hohes Maß an Einfluss in allen Bereichen mit sich. Ich mache die Erfahrung, wenn ich mit Managern ins Gespräch komme, dass da durchaus ein Bewusstsein für die Verantwortung vorhanden ist und dass man nicht einfach ohne ethische Standards produzieren kann. Die Realität ist letztlich: Wenn wir etwas besonders billig bekommen, dann nur deswegen, weil jemand anderes auf der Welt den Preis dafür bezahlt. Entweder zahlt der Verbraucher oder der Ausgebeutete. Diese Systematik versuchen wir aufzuzeigen.

Lässt sich dieser Widerspruch überhaupt auflösen?

Es gibt zumindest Bestrebungen in diese Richtung, wenn man mal das Textilbündnis nimmt, oder – als positives Beispiel – Adidas. Adidas ist im Moment der Weltmeister, wenn es darum geht, sklavenfrei zu produzieren. Das stellen sie nach außen auch nicht so dar, weil es immer noch ein Restrisiko gibt, von einem Subunternehmer getäuscht zu werden, aber es bleibt trotzdem ein Unternehmen, das sich formiert hat, um hier mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Verbraucher bleibt aber eine große Komponente. Heute ist Fair Trade ein Multimilliardengeschäft. Hier hat sich aus dem Bewusstsein der Verbraucher eine Industrie für Fair-Trade-Produkte entwickelt, die man inzwischen auch bei Lidl kaufen kann. Warum nicht „Sklavenfrei“ zu einem ähnlichen Erfolg verhelfen?

„Die Politik muss immer wieder daran erinnert werden, dass wir bereits als Weltgemeinschaft beschlossen haben, die Sklaverei bis 2030 zu beenden und jedem Menschen Zugang zum Rechtssystem zu gewährleisten.“

Aber sollte eine derartige Verantwortung wirklich an den Verbraucher delegiert werden?

Nein. Und deswegen brauchen wir alle drei: die Zivilgesellschaft, die Politik und die Wirtschaft. Doch das ist das Schöne an der Demokratie: Da, wo es Freiheit gibt, kann der eine den anderen in die Verantwortung nehmen. Der Druck und der Ausgleich zwischen den Beteiligten kann etwas bewirken. Deswegen sind wir gerade auch dabei, eine App zu entwickeln, mit deren Hilfe man überprüfen kann, ob ein Produkt sklavenfrei produziert worden ist oder nicht. Zunächst werden da nur ganz kleine Firmen auftauchen, aber es ist immerhin ein Anfang. Und auch das ist eine Aufgabe der Zivilgesellschaft: anzufangen. Danach müssen wir uns Verbündete suchen, um miteinander Dinge zu verändern. Wir als IJM können Dinge tun, die die Industrie nicht tun kann, und umgekehrt. Und die Politik muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Dazu muss man sie bewegen, denn zum Teil ist die Industrie hier weiter als die Politiker. Die Politik muss immer wieder daran erinnert werden, dass wir bereits als Weltgemeinschaft beschlossen haben, die Sklaverei bis 2030 zu beenden und jedem Menschen Zugang zum Rechtssystem zu gewährleisten. Das ist ein Zusammenspiel, das den Mut des Menschenrechtlers braucht, aber auch den Mut des Politikers, der sagt: Ich gehe da mit. Und es braucht den Mut des Unternehmers, der sagt: Gewinnoptimierung ist nicht alles, ein gutes Image ist mittelfristig sogar besser.

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