Gratis-Interview  International Justice Mission

International Justice Mission

„Ohne Rechtssicherheit macht Armutsbekämpfung keinen Sinn.“

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19. Oktober 2018, Berlin. Das Klingelschild fehlt noch, aber auf den Fluren der frisch in die Räumlichkeiten eingezogenen INTERNATIONAL JUSTICE MISSION herrscht bereits rege Betriebsamkeit. Seit 20 Jahren kämpft die gemeinnützige Organisation gegen Sklaverei – ein Phänomen, das man eigentlich auf den hinteren Seiten der Geschichtsbücher vermutet. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Weil sich in den rechtsfreien Räumen der globalisierten Welt immer wieder dubiose Geschäftsmodelle etablieren, von denen unter Umständen auch hiesige Konsumenten profitieren, hat man es mit einem zeitgemäßen Problem zu tun. Doch auch die Lösungen können überraschend aktuell und naheliegend sein. Dietmar Roller, der Vorstandsvorsitzende der deutschen Dependance, spricht aus Erfahrung. Dabei verbreitet er die Aura eines Realisten, der sich dennoch große Ziele gesteckt hat.

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Herr Roller, wie definiert man heutzutage einen Sklaven?

Dietmar Roller: Es gibt das Palermo-Protokoll von 2000, in dem sich die internationale Gemeinschaft auf eine sehr gute Definition verständigt hat. Sklaverei bedeutet, dass man in eine Arbeitssituation hineingehandelt wird, dabei geht es um Handlung, wie Anwerbung, Mittel, wie Androhung von Gewalt, und Zweck, wie sexuelle Ausbeutung gegen den eigenen Willen, unter Zwang oder Druck. Jemand, der versklavt ist, ist Eigentum von jemand anderem. Er wird zu einer Ware, mit der man tun kann, was man will. Einerseits ist die Sklaverei in diesem Sinne wie ein Chamäleon, das sich in verschiedenen Bereichen versteckt. Andererseits gibt es dort klare Strukturen. Eine davon ist die Schuldknechtschaft.

Was bedeutet das?

Weil arme Menschen in vielen Ländern des Südens nicht einfach zur Bank gehen und Geld bekommen können, gehen sie zum Geldverleiher, der sich sein Risiko gut bezahlen lässt. Wenn sich beispielsweise ein armer Bauer in Südostasien 20 Dollar für Medikamente leihen möchte, bekommt er zwar das Geld, muss es allerdings in ein, zwei Monaten zurückzahlen – mit 40 Prozent Zinsen. Nun kommt es immer wieder vor, dass die Leute nicht zurückzahlen können und dann ein etabliertesSystem der Zusammenarbeit zwischen Geldverleihern und Sklavenhaltern greift. In der Regel werden die Schuldner dazu gebracht, ihre Schulden mit ihrer Familie abzuarbeiten, mit der Aussicht, dass die Sache in drei, vier Wochen erledigt ist. Und weil arme Leute auch weniger Zugang zu Information haben, können sie oft nicht überblicken, was dahintersteckt. Sie lassen sich auf den Deal ein, werden 300 Kilometer entfernt zu einem Steinbruch gebracht, wo sie Marmor hauen müssen. Nach vier Wochen harter Arbeit heißt es dann: Ihr habt zwar eure Schulden abgearbeitet, aber an Verpflegung, Unterkunft und Transport ist wieder soundso viel oben draufgekommen – oft mehr als zuvor. Damit fängt eine Spirale an. Wir haben Menschen befreit, die wegen 15 Dollar in der dritten Generation versklavt waren. Das heißt, der Großvater hat die Schulden gemacht, sein Sohn ist als Junge mit hineingeraten, hat schon in dieser Systematik geheiratet, und der Enkel kennt schon gar nichts anderes. Das Perfide daran: Offiziell gibt es heute keinen Staat mehr, der Sklaverei legitimiert, aber trotzdem gibt es heute mehr Sklaven als jemals zuvor in der Welt. 400 Jahre transatlantische Sklaverei haben insgesamt etwa 13 Millionen Sklaven hervorgebracht. Heute gehen wir von über 40 Millionen aus.

Sie arbeiten in verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen Ansätzen. Um welche Missstände kümmern Sie sich?

In Ghana geht es viel um Kinderarbeit in der Fischerei, in Mumbai liegt ein Schwerpunkt auf der sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen und auf der eben geschilderten Schuldknechtschaft, in der Dominikanischen Republik geht es sehr stark um pädophile Kriminelle, die als Touristen in Erscheinung treten. In Uganda dagegen heißen die Hauptthemen Landraub sowie Gewalt gegen Frauen und Kinder. Man sieht: Sklaverei ist für uns die Spitze, an der wir arbeiten, aber darunter gibt es viele andere Themen. Letzten Endes geht es immer um extreme Gewalt gegen Arme.

„Offiziell gibt es heute keinen Staat mehr, der Sklaverei legitimiert, aber trotzdem gibt es heute mehr Sklaven als jemals zuvor in der Welt.“

Wie stellt sich – als Beispiel – die Situation in Ghana dar?

Ghana besitzt mit dem Voltasee den größten menschengemachten Stausee der Welt. Er ist sehr fischreich, doch die Fischer, die dort arbeiten, werden trotz großer Umsätze nicht reich. Die billigsten Arbeitskräfte sind immer die Kinder – und nicht unbedingt die eigenen. Es gibt in der ganzen Region einen regen Menschenhandel, bei dem Kinder an die Fischer verkauft werden. Die Anwerber geben sich auch durchaus Mühe, für die Familien im Dorf verheißungsvolle Szenarien aufzubauen, in denen das Kind den Fischerberuf erlernt und anschließend in der Lage sein wird, die Familie zu unterstützen. Die Versuchung, jemandem sein Kind anzuvertrauen, wird dadurch größer als die Gefahr, die man sieht. Die Eltern glauben, dass sie die Sicherheit ihrer Kinder eher vergrößern als verschlechtern, indem sie diese Chance wahrnehmen. Leider ist das meistens nicht der Fall, und die Kinder erreicht von all diesen Versprechungen nichts. Stattdessen müssen sie dann zwölf Stunden am Tag auf kleinen Kanus sitzen und eine ganz besondere Arbeit verrichten. Dadurch dass der Stausee nämlich künstlich angelegt worden ist, hat er bei seiner Ausdehnung viele Waldgebiete überschwemmt, die jetzt unter der Wasseroberfläche liegen. In diesen Bäumen verfangen sich regelmäßig die Fischernetze, und dann werden die Kinder ins Wasser geworfen, um sie wieder freizubekommen. Schwimmen können die wenigsten von ihnen, denn die Fischer kalkulieren: Wer nicht schwimmen kann, verschwindet nicht, sondern bleibt in der Nähe des Bootes. Wir gehen momentan von 20.000 bis 70.000 Kindern aus, die sich in dieser Situation befinden.

Wissen diese Sklaven, dass sie Sklaven sind?

Das ist eine gute Frage. Sie würden sicher nicht immer diese Begrifflichkeit wählen. Aber dass sie Ware sind und rechtlos ausgebeutet werden – das wissen sie alle. Das wissen sie unter anderem auch schon deshalb, weil sie gerne zur Schule gehen würden und nicht dürfen. Oder weil sie bei kleinsten Fehlern hart bestraft werden. Oder eben dadurch, dass sie mit einem Strick am Fuß über Bord geschmissen werden, obwohl sie gar nicht schwimmen können.

Was unterscheidet Ihre Organisation von den vielen anderen, die solche Zustände ebenfalls abschaffen wollen?

Es sind vor allem programmatische Unterschiede, auch wenn es immer wieder zur engen Zusammenarbeit mit anderen Organisationen kommt. Die Arbeit, die wir machen, macht etwa World Vision nicht, aber es kann durchaus sein, dass wir in der Nacharbeit oder der Reintegration von Menschen Kleinkredite brauchen, die dann von dort kommen. Unser Ansatz ist ein anderer. Wir sagen: Wenn arme Menschen keinen Zugang zum Rechtssystem haben, obwohl die rechtliche Lage dazu eigentlich gegeben ist – wie kann man dann programmatisch so arbeiten, dass es anfängt zu funktionieren? Denn wenn arme Menschen keinen Zugang zu Rechtssystemen haben, bilden sich dort rechtsfreie Räume, was man zum Beispiel in Slums oder in den ländlichen Bereichen von Afrika beobachten kann. In diesen rechtsfreien Räumen bilden sich als nächstes Geschäftsmodelle, die relativ günstig sind. Das ist kein Zufall, denn wenn man Menschen für sich arbeiten lässt, die man als Eigentum betrachtet, kann man mit relativ wenig Aufwand viel Geld machen. International Justice Mission ist die Fachorganisation, die diese Geschäftsmodelle und den straffreien Raum, in dem sie gedeihen, zerstören helfen möchte.

Wie genau gehen Sie das an?

Wir beschäftigen in einem ersten Schritt verdeckte Ermittler, die sehr eng mit der Polizei zusammenarbeiten und genau in die Problematik vor Ort hineingehen. Dann haben wir Anwälte, Sozialarbeiter und Psychologen – alles Leute, die fachlich auf der Höhe des Könnens sind und dazu ausgebildet, sich genau mit diesen Themen zu befassen. Wir gehen Hinweisen nach, die aus der Zivilgesellschaft kommen, manchmal von der Polizei und auch aus der eigenen Recherche. Man ahnt sehr schnell, wo etwas im Argen liegt, und unsere verdeckten Ermittler überprüfen dann, ob das wirklich so ist und was genau vor Ort passiert. Dann werden wir tätig. Der nächste Schritt ist, dass diese Menschen von der Polizei befreit werden. Für die Betroffenen ist das natürlich erst einmal etwas Gutes, hat aber noch keine nachhaltige Wirkung, solange der Sklavenhalter anschließend einfach wieder neue Menschen verdingen kann. Man geht heute davon aus, dass ein Sklave etwa 90 Dollar kostet. Ein relativ niedriger Preis.

„Das ist das Schöne an der Demokratie: Da, wo es Freiheit gibt, kann der eine den anderen in die Verantwortung nehmen.“

Die Rechtssicherheit ist durch die Befreiung aber noch nicht gegeben, erst recht nicht, wenn man von einer unzuverlässigen Polizei und verbreiteter Korruption ausgeht. Inwiefern kann dieser Ansatz da Wirkung zeigen?

Man muss hier differenzieren. Ja, die Polizei ist häufig unzuverlässig, das Rechtssystem auch. Es sind wenige Ressourcen da, die Menschen sind oft schlecht ausgebildet, Korruption ist auch dort virulent. Generell funktionieren die Systeme aus verschiedenen Gründen nicht so, wie sie sollen. Wenn wir uns ein Rechtssystem vorstellen, haben wir gerne eine Art Pipeline vor Augen. Die Pipeline besteht aus Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Sozialarbeitern, auf der einen Seite geht sozusagen die Ungerechtigkeit rein, und auf der anderen Seite kommt Gerechtigkeit raus. Was wir vor Ort erleben, ist, dass diese Pipeline an verschiedenen Stellen Löcher hat. Schlechte Polizeiausbildung, Korruption, überarbeitete Richter, unvorbereitete Staatsanwälte. Auf diese Weise kommt unter Umständen mehr Ungerechtigkeit als vorher aus dieser Pipeline heraus. Wir merken, dass etwa 15-20 Prozent der Polizei korruptionsanfällig sind. Wir wissen aber auch, dass es bei der Polizei auch immer Menschen gibt, die das nicht wollen. Die tatsächlich ihrem Land und ihren Mitmenschen dienen möchten. Auch das sind etwa 20 Prozent. Dazwischen gibt es die Menschen, die sich da anlehnen, wo sich das Gesamtsystem gerade hin entwickelt.

Woher kommt diese Erkenntnis?

Aus der Erfahrung. Wir arbeiten mit Hunderttausenden von Polizisten auf der Welt zusammen, wir schulen Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter – das ist eine unserer Hauptaufgaben. Hier erkennen wir, dass Korruption einerseits ein großes Problem ist, dass die Polizei andererseits aber auch vielerorts eine schlechte Ausbildung hat. Wir haben teilweise mit Polizisten zu tun, die drei Tage Ausbildung hatten und dann in einen Slum geschickt werden. Diese Polizisten machen immer die gleiche Erfahrung: Reiche Leute haben gute Anwälte, und ihren Verbrechen können auch meine Ermittlungen nichts entgegensetzen. Dadurch entsteht ein hohes Maß an Frustration, die dann oft zu Korruption führen kann, ein Kampf gegen Windmühlen, bei dem man dann irgendwann anfängt, lieber die Hand aufzuhalten. Wir kennen auch das Phänomen, dass ein Staatsanwalt Tausende Fälle auf seinem Schreibtisch hat, weil es zu wenige Staatsanwälte gibt. Die Situation ist also komplex, weshalb die Befreiung von Sklavenarbeitern erst der Anfang sein kann.

Was kommt danach?

Danach ist es wichtig, dass unsere Anwälte die Opfer vertreten und die Täter zur Anklage bringen. Oft ist es das erste Mal, dass es zu einer Verurteilung kommt. Das hat eine Leuchtturmwirkung, denn wenn Recht angewandt wird, beginnt sich das Rechtssystem zu verändern und die Straflosigkeit verliert. Das sendet auch eine Botschaft an die angesprochenen Geschäftsmodelle, nämlich: Das Risiko steigt – man kann für diese Dinge tatsächlich verurteilt werden. Wir hatten den Fall, dass 200 Menschen aus einer Ledervorproduktion in Südostasien herausgeholt wurden, und die erste Verurteilung des Täters führte zu einer Zahlung von acht Dollar Strafe. Das hat natürlich niemanden abgeschreckt, und zwei Wochen später hat der Sklavenhalter wieder 200 neue Leute beschäftigt. Wir sind aber drangeblieben, und es kam erneut zu einer Verurteilung, diesmal zu acht Jahren Gefängnis. Das hat in dieser Region alles verändert.

Das klingt aber, als ob die Lösung dieser Probleme durch Reformen von oben kommen müsste – nicht unbedingt durch die individuelle Opferhilfe.

Genauso ist es auch. Die individuellen Opfer sind nur der Anfang. Durch sie lernen wir, wo die Löcher in der Rechts-Pipeline sind. Gleichzeitig ist klar: Man muss irgendwo die Ärmel hochkrempeln und anfangen. Für uns ist das gleichzeitig die erste Lernkurve, denn hier erfahren wir etwas über die Ursachen der Sklaverei und ihre Hintergründe. Letztendlich arbeiten wir am Ende aber auf höchster Ebene mit Regierungen zusammen, um veränderte Rechtslagen zu schaffen, wo es notwenig ist. Wir arbeiten mit Spezialisten, um Rechtssysteme von innen heraus so zu bestärken, dass sie befähigt sind, ihren Aufgaben nachzukommen. Dazu schulen wir Polizisten, Staatsanwälte und Richter. Und wir können nachweisen, dass wir hier Erfolg haben. Wir sind auch schon aus Ländern wieder herausgegangen, weil es funktioniert.

Wo zum Beispiel?

Zum Beispiel aus Kambodscha. Als wir dort 2000 mit unserer Arbeit angefangen haben, war das Land ein Eldorado für pädophile Kriminelle. Die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen durch Ausländer war ein profitabler Geschäftsbetrieb, 20 bis 30 Prozent der Prostituierten in Phnom Penh waren minderjährig. Über zehn Jahre haben wir Schritt für Schritt darauf hingearbeitet, dass die lokale Polizei ihren Aufgaben nachkommt und gleichzeitig an der Rechtslage gearbeitet. Nach und nach kam es in dem Milieu zu Verurteilungen, wodurch das Risiko sowohl für die Sextouristen aus dem Ausland als auch für die Betreiber im Inland extrem gestiegen ist. Heute gehen wir von einer Situation aus, bei der nur noch ein Prozent der Prostituierten minderjährig ist und es für die Täter harte Strafen gibt. Dazu gibt es Hilfsangebote für betroffene Kinder und Spezialeinheiten bei der Polizei, die sich auf dieses Thema konzentrieren. Es gibt aber vor allem ein Verfahrenssystem, bei dem Kinder Psychologen gegenüber Aussagen machen können, ohne direkt mit dem Täter konfrontiert zu werden. Sensible Gerichte, die Aussagen auch so aufnehmen, dass sie glaubwürdig im Verfahren genutzt werden können. All diese Maßnahmen haben das System in den letzten zwölf Jahren verändert. Das heißt nicht, dass Kinderprostitution ganz verschwunden ist. Aber inzwischen bewegen sich die Zahlen wenigstens im globalen Mittelmaß und sind nicht mehr exorbitant. Dadurch zeigt sich einmal mehr: Natürlich brauchen wir auch Armutsbekämpfung, aber ohne Rechtssicherheit ist das alles nichts. Wenn wir die nicht haben, ist auch die Gefahr, dass Entwicklungshilfe nicht funktioniert, überproportional höher, als wenn es Rechtssicherheit gibt.

Sie brachten gerade ein Beispiel, bei dem ein Sklavenhalter befreite Arbeitskräfte sofort wieder anderswo beschafft. Hat man als hiesiger Konsument überhaupt einen Einfluss auf solche Geschäftspraktiken, oder neigt der globalisierte Markt immer zu Wildwuchs und Schlupflöchern dieser Art?

Eine Expertin auf dem Gebiet hat neulich gesagt, dass jeder Deutsche mit seinem Konsumverhalten über ein paar Ecken etwa 60 Sklaven beschäftigt. Das geht aus einer Erhebung aus dem Slavery Footprint hervor, die unter anderem fragt: Was ziehen wir an Textilien an? Wie benutzen wir unsere Elektronik, unsere Autos, unsere Kosmetik? Überall kann potenziell – meistens am Ende der Lieferkette – Sklavenarbeit enthalten sein. Coltan, Kobalt, Gold und Diamanten sind alles Beispiele für Mineralien, die hoch kontaminiert von Sklavenarbeit sind. Bei der Kleidungsproduktion muss man sagen, dass es inzwischen tatsächlich viele Großkonzerne gibt, die viel investieren, um nichts mit dieser Arbeit zu tun zu haben. Trotzdem gibt es in den produzierenden Ländern oft noch die letzte Meile, die unbearbeitet ist. Bei der Anwerbung von Näherinnen zum Beispiel hat man es immer noch oft mit Schuldknechtschaft zu tun. Wir glauben inzwischen, dass man nur etwas verändern kann, wenn die Zivilgesellschaft, die Politik und die Wirtschaft an diesem Punkt zusammenarbeiten.

Wie kann das aussehen?

Wirtschaftlich gesehen ist Deutschland eine Weltmacht. Das bringt ein hohes Maß an Einfluss in allen Bereichen mit sich. Ich mache die Erfahrung, wenn ich mit Managern ins Gespräch komme, dass da durchaus ein Bewusstsein für die Verantwortung vorhanden ist und dass man nicht einfach ohne ethische Standards produzieren kann. Die Realität ist letztlich: Wenn wir etwas besonders billig bekommen, dann nur deswegen, weil jemand anderes auf der Welt den Preis dafür bezahlt. Entweder zahlt der Verbraucher oder der Ausgebeutete. Diese Systematik versuchen wir aufzuzeigen.

Lässt sich dieser Widerspruch überhaupt auflösen?

Es gibt zumindest Bestrebungen in diese Richtung, wenn man mal das Textilbündnis nimmt, oder – als positives Beispiel – Adidas. Adidas ist im Moment der Weltmeister, wenn es darum geht, sklavenfrei zu produzieren. Das stellen sie nach außen auch nicht so dar, weil es immer noch ein Restrisiko gibt, von einem Subunternehmer getäuscht zu werden, aber es bleibt trotzdem ein Unternehmen, das sich formiert hat, um hier mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Verbraucher bleibt aber eine große Komponente. Heute ist Fair Trade ein Multimilliardengeschäft. Hier hat sich aus dem Bewusstsein der Verbraucher eine Industrie für Fair-Trade-Produkte entwickelt, die man inzwischen auch bei Lidl kaufen kann. Warum nicht „Sklavenfrei“ zu einem ähnlichen Erfolg verhelfen?

„Die Politik muss immer wieder daran erinnert werden, dass wir bereits als Weltgemeinschaft beschlossen haben, die Sklaverei bis 2030 zu beenden und jedem Menschen Zugang zum Rechtssystem zu gewährleisten.“

Aber sollte eine derartige Verantwortung wirklich an den Verbraucher delegiert werden?

Nein. Und deswegen brauchen wir alle drei: die Zivilgesellschaft, die Politik und die Wirtschaft. Doch das ist das Schöne an der Demokratie: Da, wo es Freiheit gibt, kann der eine den anderen in die Verantwortung nehmen. Der Druck und der Ausgleich zwischen den Beteiligten kann etwas bewirken. Deswegen sind wir gerade auch dabei, eine App zu entwickeln, mit deren Hilfe man überprüfen kann, ob ein Produkt sklavenfrei produziert worden ist oder nicht. Zunächst werden da nur ganz kleine Firmen auftauchen, aber es ist immerhin ein Anfang. Und auch das ist eine Aufgabe der Zivilgesellschaft: anzufangen. Danach müssen wir uns Verbündete suchen, um miteinander Dinge zu verändern. Wir als IJM können Dinge tun, die die Industrie nicht tun kann, und umgekehrt. Und die Politik muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Dazu muss man sie bewegen, denn zum Teil ist die Industrie hier weiter als die Politiker. Die Politik muss immer wieder daran erinnert werden, dass wir bereits als Weltgemeinschaft beschlossen haben, die Sklaverei bis 2030 zu beenden und jedem Menschen Zugang zum Rechtssystem zu gewährleisten. Das ist ein Zusammenspiel, das den Mut des Menschenrechtlers braucht, aber auch den Mut des Politikers, der sagt: Ich gehe da mit. Und es braucht den Mut des Unternehmers, der sagt: Gewinnoptimierung ist nicht alles, ein gutes Image ist mittelfristig sogar besser.

Es geht also um das Image eines fairen Kapitalismus?

Es geht um einen Kapitalismus mit ethischen Grenzen. Auch in Deutschland leben wir wohlgemerkt in einem kapitalistischen System, das allerdings über die Jahrhunderte gezähmt worden ist. Heute haben wir hier Gewerkschaften, Institute, eine funktionsfähige Zivilgesellschaft. Der Kapitalismus hat sich also bis zu einem gewissen Grad einen ethisch-moralischen Rahmen gegeben. Das sieht in anderen Ländern noch anders aus. Und da sehen wir immer wieder, dass solche ethisch-moralisch unbegleiteten Systeme in brutale Ausbeutung abgleiten, wenn die Gewinnmaximierung der einzige Standard ist.

Halten Sie die Zähmung des Kapitalismus prinzipiell für möglich? Oder produziert dieses System zwangsläufig Ausbeutung?

Ich bin jetzt seit 30 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Ich habe viel Elend gesehen, aber immer auch viel Hilfsbereitschaft. Ich sehe es also nicht ganz so pessimistisch. Und ich denke auch nicht, dass der Sozialismus per se gut und der Kapitalismus per se schlecht ist. Dieses Schwarz-Weiß gibt es nicht. Aber wir müssen immer wieder – egal in welcher Situation wir gerade sind – darum ringen, dass das Gute überhandnimmt und das Böse besiegt. Natürlich kann man darüber reden, wie gut oder schlecht die Lage ist, aber es gibt in Deutschland immerhin eine Sozialabsicherung, die verhindert, dass Menschen ins Bodenlose fallen. Dass sie eben nicht ohne Ende ausgebeutet werden können. Man wird nie das Böse in der Welt besiegen können. Aber es wird immer auch das Gute geben. Und das eröffnet dann die Frage, auf welche Seite man sich stellt.

„Wenn wir etwas besonders billig bekommen, dann nur deswegen, weil jemand anderes auf der Welt den Preis dafür bezahlt. Entweder zahlt der Verbraucher oder der Ausgebeutete.“

Nun findet Sklaverei ja vor allem in Ländern statt, die nicht nur unserem Blickfeld entrückt sind, sondern auch unserer Kultur fremd sind. Trotzdem müssen Sie sich als Organisation hier mit den Gegebenheiten auseinandersetzen, ohne unbedingt die Autorität zu haben.

Richtig. Deshalb arbeiten wir auch zu 95 Prozent mit lokalen Kräften zusammen; wir würden die Autorität über solche Entscheidungen nie einem Ausländer geben. Trotzdem hat man es beispielsweise in Ghana mit dem Phänomen zu tun, dass es etwa zum Thema Bildung und Schule kein Konzept gibt. Da heißt es dann: Naja, wenn Kinder arbeiten gehen, dann lernen sie – und so war es schon immer. Dagegen gehen wir an. Ich selber habe einen sozialanthropologischen Hintergrund, und da gibt es nur eine Kultur, die sich nicht verändert, und das ist die Museumskultur. Selbstverständlich müssen wir uns davor hüten, kulturimperialistisch zu sein, was immer dann geschieht, wenn eine Kultur versucht, die andere zu dominieren. Kulturelle Veränderungen dagegen brauchen wir alle. Auch unsere deutsche Kultur verändert sich laufend, und in Ländern wie Indien ist das ebenfalls der Fall. Zwar ist dort das Kastensystem immer noch sehr ausgeprägt, aber gleichzeitig gibt es dort eine Regierung, die das Land als modernen Staat versteht und die traditionellen Verhältnisse nicht mehr will. Seit 1950 gibt es dort ein entsprechendes Gesetz, und daran muss sich die Kultur langsam anpassen. Das gilt auch für das Thema Frauenrechte, was beileibe keine spezifisch indische Frage ist.

Weil man überall auf der Welt von männerdominierten, patriarchalischen Strukturen ausgehen kann, die Gewalt gegen Frauen begünstigt?

Genau. In ganz Südasien gibt es bereits Gesetze, die Gewalt gegen Frauen verbieten. Und es ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft und der Regierungen, diese Rechtslage durchzusetzen. Hier muss man eine Bewusstseinsänderung schaffen, die wiederum bei der Bildung in den Schulen anfängt. Das Bild der Frau verändert sich nicht von heute auf morgen, aber wir erkennen schon, dass den Tätern zunehmend bewusst wird, dass ihre Taten eben nicht kulturell legitimiert sind und dass sie kriminelle Handlungen begehen, die eigentlich bestraft gehören.

Wie soll in Ihren Augen ein weltweit gültiges Vertragswerk aussehen, das der Sklaverei nachhaltig Einhalt gebieten kann?

Wir haben bereits einen ethisch-moralischen Kompass, der weltweit gültig ist, und das sind die Menschenrechte. Die fangen bekanntlich damit an, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Dass das kulturell kontextualisiert umgesetzt werden muss, ist unstrittig. Aber die Tatsache, dass dieser Satz existiert, ist zunächst einmal ein klares Zeichen dafür, dass auch dieser Kompass existiert. Und aus diesem Kompass entwickelt sich das Recht, das auch global durch die UN und ihre Mitgliedsstaaten anerkannt und verpflichtend ist. Wenn das nicht so wäre, könnte der sogenannte Islamische Staat ja auch recht damit haben, wenn er sagt, dass es seiner inneren Struktur und seinem religiösen Glauben nach auf seinem Territorium völlig legitim ist, sich jesidische Frauen als Sklavinnen zu halten und Ungläubige umzubringen. Hier sagt die Weltgemeinschaft aber auch nicht: Na gut, wenn das bei euch eben so ist.

Das ist aber ein extremes Beispiel.

Nicht unbedingt. Das kann man auf viele andere Situationen übertragen. Es gibt Kulturen, die behaupten, die Ausbeutung von Frauen sei rechtens, weil Frauen minderwertiger seien als Männer. Das könnte man legitimieren, indem man sagt: Die Kultur sieht das halt so. Oder man kann sagen: Nein, es gibt ein globales Recht, das Frauen auch in diesen Gegenden schützt. Die Menschenrechte sind wohlgemerkt nicht aus einem kolonialen Machtbewusstsein heraus entstanden. Sie sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Eindruck heraus entstanden, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie sich auf einen gemeinsamen ethisch-moralischen Kompass einigt. Dass der heute von Populisten infrage gestellt wird, ist eine Herausforderung, über die man noch reden muss. Die Trumps und die Erdogans dieser Welt nehmen durchaus wieder eine kulturimperialistische Sicht ins Blickfeld. Aber das sollte uns auf der liberalen Seite umso mehr dazu anspornen, darüber nachzudenken, was die Würde des Menschen global bedeutet – für Frauen, für Kinder, für Männer, für die unterschiedlichen Kulturen. Die eigenen ausbeuterischen Praktiken mit der Kultur zu legitimieren – das geht nicht. Genauso wenig ist es legitim, einem Dieb die Hand abzuhacken, nur weil das kulturell oder religiös so verankert sein mag. Und ganz nebenbei: Das Motiv des Kulturimperialismus war immer ein vollkommen anderes als die Etablierung einer globalen Grundlage für Menschenrechte.

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Zur Person

Der Menschenrechtsanwalt Gary Haugen gründete International Justice Mission 1997 unter dem Eindruck des Völkermords in Ruanda. Die christliche Hilfsorganisation versteht sich seitdem als Kämpfer gegen Menschenhandel, Zwangsprostitution, Polizeigewalt und moderne Sklaverei und leistet politische Arbeit, Bildungsarbeit und Aufklärungsarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas, Südasiens und Lateinamerikas. Ohne Rechtssicherheit und wirksamen Schutz vor Gewalt, so die Philosophie von IJM, sind Ziele der Entwicklungszusammenarbeit wie der Kampf gegen Armut, Hunger und Krankheiten nicht nachhaltig zu erreichen. IJM beschäftigt weltweit inzwischen über 1000 Mitarbeiter und arbeitet unter anderem mit der Bill & Melissa Gates Foundation zusammen.

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