Gratis-Interview  International Justice Mission

International Justice Mission

„Ohne Rechtssicherheit macht Armutsbekämpfung keinen Sinn.“

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19. Oktober 2018, Berlin. Das Klingelschild fehlt noch, aber auf den Fluren der frisch in die Räumlichkeiten eingezogenen INTERNATIONAL JUSTICE MISSION herrscht bereits rege Betriebsamkeit. Seit 20 Jahren kämpft die gemeinnützige Organisation gegen Sklaverei – ein Phänomen, das man eigentlich auf den hinteren Seiten der Geschichtsbücher vermutet. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Weil sich in den rechtsfreien Räumen der globalisierten Welt immer wieder dubiose Geschäftsmodelle etablieren, von denen unter Umständen auch hiesige Konsumenten profitieren, hat man es mit einem zeitgemäßen Problem zu tun. Doch auch die Lösungen können überraschend aktuell und naheliegend sein. Dietmar Roller, der Vorstandsvorsitzende der deutschen Dependance, spricht aus Erfahrung. Dabei verbreitet er die Aura eines Realisten, der sich dennoch große Ziele gesteckt hat.

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Herr Roller, wie definiert man heutzutage einen Sklaven?

Dietmar Roller: Es gibt das Palermo-Protokoll von 2000, in dem sich die internationale Gemeinschaft auf eine sehr gute Definition verständigt hat. Sklaverei bedeutet, dass man in eine Arbeitssituation hineingehandelt wird, dabei geht es um Handlung, wie Anwerbung, Mittel, wie Androhung von Gewalt, und Zweck, wie sexuelle Ausbeutung gegen den eigenen Willen, unter Zwang oder Druck. Jemand, der versklavt ist, ist Eigentum von jemand anderem. Er wird zu einer Ware, mit der man tun kann, was man will. Einerseits ist die Sklaverei in diesem Sinne wie ein Chamäleon, das sich in verschiedenen Bereichen versteckt. Andererseits gibt es dort klare Strukturen. Eine davon ist die Schuldknechtschaft.

Was bedeutet das?

Weil arme Menschen in vielen Ländern des Südens nicht einfach zur Bank gehen und Geld bekommen können, gehen sie zum Geldverleiher, der sich sein Risiko gut bezahlen lässt. Wenn sich beispielsweise ein armer Bauer in Südostasien 20 Dollar für Medikamente leihen möchte, bekommt er zwar das Geld, muss es allerdings in ein, zwei Monaten zurückzahlen – mit 40 Prozent Zinsen. Nun kommt es immer wieder vor, dass die Leute nicht zurückzahlen können und dann ein etabliertesSystem der Zusammenarbeit zwischen Geldverleihern und Sklavenhaltern greift. In der Regel werden die Schuldner dazu gebracht, ihre Schulden mit ihrer Familie abzuarbeiten, mit der Aussicht, dass die Sache in drei, vier Wochen erledigt ist. Und weil arme Leute auch weniger Zugang zu Information haben, können sie oft nicht überblicken, was dahintersteckt. Sie lassen sich auf den Deal ein, werden 300 Kilometer entfernt zu einem Steinbruch gebracht, wo sie Marmor hauen müssen. Nach vier Wochen harter Arbeit heißt es dann: Ihr habt zwar eure Schulden abgearbeitet, aber an Verpflegung, Unterkunft und Transport ist wieder soundso viel oben draufgekommen – oft mehr als zuvor. Damit fängt eine Spirale an. Wir haben Menschen befreit, die wegen 15 Dollar in der dritten Generation versklavt waren. Das heißt, der Großvater hat die Schulden gemacht, sein Sohn ist als Junge mit hineingeraten, hat schon in dieser Systematik geheiratet, und der Enkel kennt schon gar nichts anderes. Das Perfide daran: Offiziell gibt es heute keinen Staat mehr, der Sklaverei legitimiert, aber trotzdem gibt es heute mehr Sklaven als jemals zuvor in der Welt. 400 Jahre transatlantische Sklaverei haben insgesamt etwa 13 Millionen Sklaven hervorgebracht. Heute gehen wir von über 40 Millionen aus.

Sie arbeiten in verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen Ansätzen. Um welche Missstände kümmern Sie sich?

In Ghana geht es viel um Kinderarbeit in der Fischerei, in Mumbai liegt ein Schwerpunkt auf der sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen und auf der eben geschilderten Schuldknechtschaft, in der Dominikanischen Republik geht es sehr stark um pädophile Kriminelle, die als Touristen in Erscheinung treten. In Uganda dagegen heißen die Hauptthemen Landraub sowie Gewalt gegen Frauen und Kinder. Man sieht: Sklaverei ist für uns die Spitze, an der wir arbeiten, aber darunter gibt es viele andere Themen. Letzten Endes geht es immer um extreme Gewalt gegen Arme.

„Offiziell gibt es heute keinen Staat mehr, der Sklaverei legitimiert, aber trotzdem gibt es heute mehr Sklaven als jemals zuvor in der Welt.“

Wie stellt sich – als Beispiel – die Situation in Ghana dar?

Ghana besitzt mit dem Voltasee den größten menschengemachten Stausee der Welt. Er ist sehr fischreich, doch die Fischer, die dort arbeiten, werden trotz großer Umsätze nicht reich. Die billigsten Arbeitskräfte sind immer die Kinder – und nicht unbedingt die eigenen. Es gibt in der ganzen Region einen regen Menschenhandel, bei dem Kinder an die Fischer verkauft werden. Die Anwerber geben sich auch durchaus Mühe, für die Familien im Dorf verheißungsvolle Szenarien aufzubauen, in denen das Kind den Fischerberuf erlernt und anschließend in der Lage sein wird, die Familie zu unterstützen. Die Versuchung, jemandem sein Kind anzuvertrauen, wird dadurch größer als die Gefahr, die man sieht. Die Eltern glauben, dass sie die Sicherheit ihrer Kinder eher vergrößern als verschlechtern, indem sie diese Chance wahrnehmen. Leider ist das meistens nicht der Fall, und die Kinder erreicht von all diesen Versprechungen nichts. Stattdessen müssen sie dann zwölf Stunden am Tag auf kleinen Kanus sitzen und eine ganz besondere Arbeit verrichten. Dadurch dass der Stausee nämlich künstlich angelegt worden ist, hat er bei seiner Ausdehnung viele Waldgebiete überschwemmt, die jetzt unter der Wasseroberfläche liegen. In diesen Bäumen verfangen sich regelmäßig die Fischernetze, und dann werden die Kinder ins Wasser geworfen, um sie wieder freizubekommen. Schwimmen können die wenigsten von ihnen, denn die Fischer kalkulieren: Wer nicht schwimmen kann, verschwindet nicht, sondern bleibt in der Nähe des Bootes. Wir gehen momentan von 20.000 bis 70.000 Kindern aus, die sich in dieser Situation befinden.

Wissen diese Sklaven, dass sie Sklaven sind?

Das ist eine gute Frage. Sie würden sicher nicht immer diese Begrifflichkeit wählen. Aber dass sie Ware sind und rechtlos ausgebeutet werden – das wissen sie alle. Das wissen sie unter anderem auch schon deshalb, weil sie gerne zur Schule gehen würden und nicht dürfen. Oder weil sie bei kleinsten Fehlern hart bestraft werden. Oder eben dadurch, dass sie mit einem Strick am Fuß über Bord geschmissen werden, obwohl sie gar nicht schwimmen können.

Was unterscheidet Ihre Organisation von den vielen anderen, die solche Zustände ebenfalls abschaffen wollen?

Es sind vor allem programmatische Unterschiede, auch wenn es immer wieder zur engen Zusammenarbeit mit anderen Organisationen kommt. Die Arbeit, die wir machen, macht etwa World Vision nicht, aber es kann durchaus sein, dass wir in der Nacharbeit oder der Reintegration von Menschen Kleinkredite brauchen, die dann von dort kommen. Unser Ansatz ist ein anderer. Wir sagen: Wenn arme Menschen keinen Zugang zum Rechtssystem haben, obwohl die rechtliche Lage dazu eigentlich gegeben ist – wie kann man dann programmatisch so arbeiten, dass es anfängt zu funktionieren? Denn wenn arme Menschen keinen Zugang zu Rechtssystemen haben, bilden sich dort rechtsfreie Räume, was man zum Beispiel in Slums oder in den ländlichen Bereichen von Afrika beobachten kann. In diesen rechtsfreien Räumen bilden sich als nächstes Geschäftsmodelle, die relativ günstig sind. Das ist kein Zufall, denn wenn man Menschen für sich arbeiten lässt, die man als Eigentum betrachtet, kann man mit relativ wenig Aufwand viel Geld machen. International Justice Mission ist die Fachorganisation, die diese Geschäftsmodelle und den straffreien Raum, in dem sie gedeihen, zerstören helfen möchte.

Wie genau gehen Sie das an?

Wir beschäftigen in einem ersten Schritt verdeckte Ermittler, die sehr eng mit der Polizei zusammenarbeiten und genau in die Problematik vor Ort hineingehen. Dann haben wir Anwälte, Sozialarbeiter und Psychologen – alles Leute, die fachlich auf der Höhe des Könnens sind und dazu ausgebildet, sich genau mit diesen Themen zu befassen. Wir gehen Hinweisen nach, die aus der Zivilgesellschaft kommen, manchmal von der Polizei und auch aus der eigenen Recherche. Man ahnt sehr schnell, wo etwas im Argen liegt, und unsere verdeckten Ermittler überprüfen dann, ob das wirklich so ist und was genau vor Ort passiert. Dann werden wir tätig. Der nächste Schritt ist, dass diese Menschen von der Polizei befreit werden. Für die Betroffenen ist das natürlich erst einmal etwas Gutes, hat aber noch keine nachhaltige Wirkung, solange der Sklavenhalter anschließend einfach wieder neue Menschen verdingen kann. Man geht heute davon aus, dass ein Sklave etwa 90 Dollar kostet. Ein relativ niedriger Preis.

„Das ist das Schöne an der Demokratie: Da, wo es Freiheit gibt, kann der eine den anderen in die Verantwortung nehmen.“

Die Rechtssicherheit ist durch die Befreiung aber noch nicht gegeben, erst recht nicht, wenn man von einer unzuverlässigen Polizei und verbreiteter Korruption ausgeht. Inwiefern kann dieser Ansatz da Wirkung zeigen?

Man muss hier differenzieren. Ja, die Polizei ist häufig unzuverlässig, das Rechtssystem auch. Es sind wenige Ressourcen da, die Menschen sind oft schlecht ausgebildet, Korruption ist auch dort virulent. Generell funktionieren die Systeme aus verschiedenen Gründen nicht so, wie sie sollen. Wenn wir uns ein Rechtssystem vorstellen, haben wir gerne eine Art Pipeline vor Augen. Die Pipeline besteht aus Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Sozialarbeitern, auf der einen Seite geht sozusagen die Ungerechtigkeit rein, und auf der anderen Seite kommt Gerechtigkeit raus. Was wir vor Ort erleben, ist, dass diese Pipeline an verschiedenen Stellen Löcher hat. Schlechte Polizeiausbildung, Korruption, überarbeitete Richter, unvorbereitete Staatsanwälte. Auf diese Weise kommt unter Umständen mehr Ungerechtigkeit als vorher aus dieser Pipeline heraus. Wir merken, dass etwa 15-20 Prozent der Polizei korruptionsanfällig sind. Wir wissen aber auch, dass es bei der Polizei auch immer Menschen gibt, die das nicht wollen. Die tatsächlich ihrem Land und ihren Mitmenschen dienen möchten. Auch das sind etwa 20 Prozent. Dazwischen gibt es die Menschen, die sich da anlehnen, wo sich das Gesamtsystem gerade hin entwickelt.

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