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Claudia Smeets und Christoph Kazmierczak

„Kinder glauben das, was die Eltern ihnen vorleben.“

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  • Sebastian Mölleken
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Meerbusch, 17.03.2016. Wer an dem kalten, aber von kristallklarem Licht gesegneten Frühlingstag einen Blick in das Café & Confiserie Adams wirft, käme wohl kaum auf die Idee, dass die gut gekleideten Herrschaften dort vor dem Mikrofon über die harte Wirklichkeit sozialer Abgründe sprechen. Eher sehen die beiden Köpfe hinter „Kinderhelfer mit Herz e.V.“ auf den ersten Blick wie Geschäftsleute aus. Was Sie im echten Leben auch sind. In Ihrer Freizeit widmen sie sich mit vollem Einsatz der Unterstützung von Einrichtungen wie den Kindertafeln in NRW, die weit mehr als bloß materielle Notversorger sind. Schnell wird im Gespräch klar: Wer die Kinderarmut bekämpft, beschäftigt sich vor allem mit emotionaler Vernachlässigung.

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Frau Smeets, Herr Kazmierczak, in der letzten Ausgabe dieses Magazins haben wir an dieser Stelle die Andreas Mohn Stiftung vorgestellt, die sich u.a. um die Förderung sowohl minderbegabter wie auch hochbegabter Kinder kümmert. Sie setzen noch viel grundlegender an und beschäftigen sich mit Kinderarmut. Wie zeigt die sich in einem Wohlfahrtstaat, dessen Sozialsystem Familien mit Kindern eigentlich gut unterstützt?

Christoph Kazmierczak: Sie ist nicht auf die gleiche Weise zu erkennen wie in den sogenannten Drittweltländern. In Deutschland sitzen keine Kinder bettelnd und in Lumpen auf der Straße. Gleichwohl leben zum Beispiel in unserem reichen Bundesland NRW rund eine Millionen Kinder knapp an oder bereits unter der Armutsgrenze.

Wie definiert sich das?

Christoph Kazmierczak: Vor allem dadurch, wie stark diese Kinder von ihren Eltern vernachlässigt werden. Ihnen wird kein Mittagessen gekocht. Sie werden in die Schule geschickt, ohne auch nur ein Pausenbrot in der Tasche zu haben. Es ist ein Klischee, aber es trifft zu: Ihre Eltern sitzen lieber vor dem Fernseher, als sich um die Kinder zu kümmern. Die meisten von ihnen leben von Hartz IV.

Dessen Grundbetrag ist zwar niedrig, aber plus Kindergeld, Wohngeld und anderer Zuschüsse bzw. Kosten, die der Staat übernimmt, reicht es definitiv für Mittagessen und Pausenbrote.

Christoph Kazmierczak: Würde es. Wenn es bei den Kindern ankäme. Das ist die Schande und die Tragik, der wir jeden Tag begegnen. Eltern, die im Monat mehr von dem vorhandenen Geld für Zigaretten ausgeben als für ihre Kinder.

Es stimmt also, wenn manche am Stammtisch schimpfen, eine kinderreiche Hartz-IV-Familie bekäme unterm Strich sogar mehr als so mancher festangestellter Hilfsarbeiter auf dem Bau?

Christoph Kazmierczak: So betrachtet stimmt das Klischee, und es wird tatsächlich sogar „zuviel“ bezahlt, wobei ich das „zuviel“ ausdrücklich in Anführungsstriche setzen möchte. Die Kinder sind allerdings das schwächste Glied in der Kette, und das Geld erreicht sie nicht. Man muss es so hart feststellen: Leider Gottes lieben nicht alle Eltern ihre Kinder so, dass diese für sie an erster Stelle stehen. Hier treten wir auf den Plan oder besser gesagt: Die Kindertafeln. Um diese Kinder aufzufangen. Bei der Kindertafel geht es nicht „nur“ um das Frühstück am morgen oder die eine warme Mahlzeit am Nachmittag. Es geht darum, dass die Kinder endlich mal von jemandem in den Arm genommen werden. Dass sie Perspektiven aufgezeigt bekommen und doch noch einen guten Schulabschluss machen, um später einen Ausbildungsplatz zu kriegen.

Sie bilden eine Ersatzfamilie?

Christoph Kazmierczak: So darf man das nennen. Bei den Tafeln bekommen die Kinder eine Art von Unterstützung, Wärme und Zuwendung, die sie von zu Hause teilweise nicht kennen.
Claudia Smeets: Manche Kritiker behaupten ja, es dürfe diese ehrenamtlichen Institutionen wie die Tafeln überhaupt nicht geben, weil sie den Staat von seiner Verantwortung entlasten würden und der sich eines Tages womöglich aus dem sozialen Engagement zurückzieht. Aber zum einen geht es eben, wie Chris richtig sagte, nicht bloß ums Geld, und zum anderen sind die Kinder nun mal da. Man kann nicht sagen: Bevor wir ihnen helfen, stellen wir erst mal in aller Ruhe ein ganz neues System auf die Beine.

„Leider Gottes lieben nicht alle Eltern ihre Kinder so, dass diese für sie an erster Stelle stehen.“
(Christoph Kazmierczak)

Wie kann man sich die Kinder und Jugendlichen, die zu den Tafeln gehen, vorstellen? Entstammen sie vornehmlich den, wie man so sagt, bildungsfernen Schichten?

Christoph Kazmierczak: Armut hat natürlich nicht zwangsläufig mit mangelnder Intelligenz zu tun, und es gibt dort auch Kinder vom Gymnasium, aber die meisten kommen in der Tat von der Haupt- oder Sonderschule. Sie besuchen diese Schulformen aber nicht, weil sie dumm wären, sondern weil sie daheim niemand fördert. Keiner sagt ihnen, wie wichtig es ist, zu lernen oder seine Hausaufgaben zu machen. Das fangen die Tafeln wieder auf. Sie bieten Nachhilfe an und Leseförderung. Nach einer Weile entdecken die Kinder das erste Mal den Spaß am Lernen. Sie sehen persönliche Erfolge. Manche werden befähigt, eine höhere Schule zu besuchen und sind daraufhin mächtig stolz auf sich.

Mit welcher Haltung kommen die jungen Menschen denn dort an?

Christoph Kazmierczak: Zunächst etwas verschüchtert. Hier muss man eine Lanze für die Lehrer brechen, auf denen viel zu viel herumgehackt wird. Sie erkennen, welche ihrer Schüler diese Unterstützung benötigen könnten, nehmen sie an die Hand und gehen das erste Mal gemeinsam mit ihnen da hin. Manchmal regen auch Freunde ein Kind dazu an. Von selber würde natürlich keiner auf die Idee kommen. Nach einer Weile gefällt es den meisten dort so gut, dass sie von alleine Stammgäste werden.
Claudia Smeets: Manche merken auch in der Schule, dass sich andere Kinder am morgen erst mal mit Broten, Getränken und Obst eindecken und werden neugierig.
Christoph Kazmierczak: Um mal eine Zahl zu nennen: Eine Kindertafel schmiert am Tag 1.600 Brote. Das sind 800 Frühstücksbeutel. Sie werden in der Schule selbst stationiert, wo sich jedes Kind, das möchte, daran bedienen darf, auch wenn es „eigentlich“ nicht bedürftig ist und vielleicht einfach nur sein Proviant daheim vergessen hat. Das ist sinnvoll, denn auf diese Weise sticht man als „armes Kind“ nicht so heraus und wird weniger stigmatisiert.

Wie sieht’s mit dem Vorurteil aus, dass viele Jugendliche heute eine fatalistische Haltung nach dem Motto haben: „Ich lande entweder auf Hartz IV oder gehe zu einem Casting. Anderweitig habe ich sowieso keine Chance.“

Claudia Smeets: Kinder glauben das, was die Eltern ihnen vorleben. Wir alle haben uns unsere Verhaltensweisen und Überzeugungen über die Welt zu Beginn von den eigenen Eltern abgeschaut. Wissen die, was sie wollen und gehen einen aktiven Weg, überträgt sich das auf die Kinder. Bei den Eltern der von uns unterstützten Kinder ist das selten der Fall.
Christoph Kazmierczak: Sie leben eine „Null Bock!“-Haltung vor. Sie sagen: „Mit deinem Hauptschulabschluss hast du sowieso keine Chance, einen guten Job zu bekommen. Guck uns an, wir haben auch keinen ergattern können.“ Diese Einstellung geben sie an ihre Kinder weiter. Wir als Erwachsene können uns aussuchen, welcher Haltung wir folgen und wem wir glauben wollen. Als Kind hast du keine Wahl. Bis zu einem gewissen Alter orientierst du dich an Eltern und Verwandten, danach an den Freunden. Die Kindertafeln brechen auch diese Einseitigkeit auf. Hier bekommen die Kinder das erste Mal andere Perspektiven. Sehen erstmals, dass die Welt nicht nur schwarz-weiß ist. Bekommen Wertschätzung entgegengebracht. Einfache Sätze wie „Das hast du gut gemacht“ oder „Siehst du, es klappt doch“ haben manche zu Hause noch nie gehört.

Was für Menschen arbeiten bei der Tafel?

Christoph Kazmierczak: Häufig sind es welche, die selber Hartz IV empfangen, Kinder sehr lieben, aber keine eigenen haben. Menschen, die es nicht fassen können, dass jemand seine Kinder nicht liebt und nicht unterstützt. Rentner engagieren sich ebenfalls, oft ehemalige Lehrer in Pension, die dann auch Nachhilfe geben. Man muss sich das ganz praktisch vorstellen: Diese Leute stehen freiwillig morgens um 4:30 Uhr auf, um 1.600 Brote zu schmieren und zu verpacken. Dieses Land würde vor die Hunde gehen, wenn es seine Ehrenamtlichen nicht hätte. Wir achten im Übrigen ganz bewusst darauf, ausschließlich Einrichtungen zu unterstützen, die ausnahmslos ehrenamtlich arbeiten.

Es gibt also auch Tafeln mit Angestellten?

Christoph Kazmierczak: Natürlich, manche Einrichtungen sind staatlich betrieben und die Leute beziehen Gehalt. Wir möchten reines soziales Engagement unterstützen, da wir den Hut vor Menschen ziehen, die ihre Freizeit dafür opfern. Für sie versuchen wir, so viel Geld und Mittel wie möglich zu organisieren.
Claudia Smeets: Eine Kindertafel, die wir unterstützen betreibt einen LKW, der durch Spenden finanziert wurde. Ein Rentner fährt damit herum und schaut, wo er Möbel auftreiben kann. So etwas ähnliches machen wir auch gerne. Kommt uns zu Ohren, dass irgendwo dringend ein Kinderbettchen, ein Schlafzimmerschrank oder eine Küche gebraucht wird, aktivieren wir unser breites Netzwerk, telefonieren herum oder funken die Suche über Facebook und Twitter. Finden wir das Gesuchte, organisieren wir ein Fahrzeug und jemanden, der die Sachen transportieren kann.

„Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in einer Kinderseele vorgeht, wenn ein Junge schon im Sommer darüber nachdenkt, wie er den Nikolaus milde stimmen kann.“
(Christoph Kazmierczak)

Die Kinderhelfer unterstützen somit auch die Familien der Kinder? Es klang bislang nicht so, dass die Eltern Unterstützung verdient hätten.

Claudia Smeets: Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Ja, es gibt diese Leute, die ihr Geld für Alkohol und Zigaretten verballern. Es gibt aber auch die alleinerziehenden Mütter, die den aufrichtigen Willen haben, ihrem Kind etwas Gutes zu tun und dafür jeden Cent zusammenkratzen. Oder die alleinerziehenden Väter, die es ja auch längst gibt.

Werden manche Eltern nicht eifersüchtig, wenn die Menschen bei der Tafel einen besseren Draht zu ihren Kindern aufbauen als sie selbst? Sabotieren manche, dass ihre Kinder dort hingehen?

Christoph Kazmierczak: In seltenen Fällen gibt es das tatsächlich. Meistens genügt es, einen vernünftigen Dialog mit den Eltern zu führen und ihnen deutlich zu machen, dass nichts gegen ihren Willen passiert. Wenn gar nichts hilft, appelliert man an den ohnehin vorhandenen Egoismus der Eltern und sagt: „Schauen Sie Mal, wenn Ihr Kind schon bei der Tafel gegessen hat, brauchen Sie zu Hause nicht mehr zu kochen.“

Man muss die egozentrische Faulheit mancher Eltern zum Vorteil Ihrer Kinder ausnutzen?

Christoph Kazmierczak: In wirklich seltenen Fällen. Manchen wiederum ist dermaßen egal, wo ihre Kinder sind, dass ihnen folglich auch egal ist, ob sie auf der Straße rumhängen oder zur Tafel gehen. Wir kennen einen Fall, da wollte ein Junge einfach nur in den Fußballverein. Der Monatsbeitrag hätte 16 Euro gekostet. Seine Eltern verrauchten ganze 200 Euro im Monat und waren nicht bereit, auch nur drei Schachteln für ihr Kind wegzulassen. Man kann es manchmal nicht fassen. Dann gibt es das extreme Gegenbeispiel einer Mutter, die sich den gelegentlichen Eisbecher für ihre Tochter im wörtlichen Sinne vom Mund absparte. Die mit fast keinem Geld, aber großer Fantasie alles für das Glück ihres Mädchens unternahm. Von einer Baustelle holte sie sich eine dieser riesigen, runden Kunststoffspindeln, auf die Schläuche aufgewickelt werden. Sie malte das Ding gemeinsam mit ihrer Kleinen an und nutzte es danach als bunten Wohnzimmertisch. Das ist Liebe. Ich muss aufpassen, dass mir hier nicht die Tränen kommen, wenn ich daran denke.

Wieviel persönlichen Kontakt haben Sie im Schnitt zu den Eltern?

Christoph Kazmierczak: Wenig. Wir hätten auch gar nicht die Zeit, auch noch wie Sozialarbeiter oder Psychologen in die Familien zu gehen. Tagsüber arbeiten wir und in unserer Freizeit wenden wir unsere Energie dafür auf, Straßenfeste, Konzerte, Lesungen oder andere Benefizveranstaltungen auf die Beine zu stellen, die Spendengelder generieren. Wir veranstalten Feste und Weihnachtsfeiern. Der Lions Club Düsseldorf Jan Wellem stellt jedes Jahr ein Golfturnier auf die Beine und spendet uns alle Erlöse. So etwas können wir tun, dafür sind wir qualifiziert; nicht dafür, heillos festgefahrene Familienprobleme aufzubrechen.
Claudia Smeets: In der Beobachtung der Familien vertrauen wir auch den Leitern der Kindertafeln oder anderer Jugendeinrichtungen. Sie haben die Verhältnisse im Hintergrund ganz gut im Blick.

Welche Geschichte hat Sie in den bisherigen Jahren des Vereins am meisten gerührt?

Christoph Kazmierczak: In der Kindertafel sah ich einen kleinen Jungen ein Bild malen. Den Nikolaus. Das Seltsame: Es war Hochsommer, ein brütend heißer Tag im Juli. Ich sage: „Du malst aber ein schönes Bild. Aber wieso malst du den Nikolaus im Sommer?“ Da antwortet der Junge: „Damit er mich lieb hat und auch mal zu mir kommt.“ Im Nachgang habe ich dann erfahren, das dieser sechsjährige Junge, solange er auf der Welt ist, noch nie Weihnachten erlebt hat. Seine Eltern haben ihm kein einziges Geschenk gemacht, nicht einmal zum Geburtstag. Er gab sich selber die Schuld daran. Glaubte, dass er nicht lieb genug gewesen sei. Malte den Nikolaus im Juli, damit er im Dezember zu ihm kommt.

Was haben Sie gemacht?

Christoph Kazmierczak: Die Kindertafel hat speziell für diesen einen Jungen eine richtige Weihnachtsfeier veranstaltet. Mit Christbaum und allem. Das hat ihn so sehr emotional berührt, dieses Glück können Sie sich nicht vorstellen. Für ihn wurde die Kindertafel tatsächlich zur zweiten Familie. Erst hier begriff er: Dass ich so behandelt werde, ist nicht meine Schuld. Ich kann was. Ich bin was.
Claudia Smeets: Für Kinder wie ihn sind die Betreuerinnen und Betreuer irgendwann wie Verwandte. Wie Onkel und Tante oder Opa und Oma. Der Junge ist ein gutes Beispiel dafür, was Eltern anrichten können und wie wichtig es ist, dass jemand kommt und sagt: „Du hast keine Schuld. Das Leben kann auch schön sein.“
Christoph Kazmierczak: Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in einer Kinderseele vorgeht, wenn ein Junge schon im Sommer darüber nachdenkt, wie er den Nikolaus milde stimmen kann. Das geht tief. Da merke ich wirklich, wie mir tatsächlich jetzt die Tränen kommen.

Kein Weihnachten, keine Geschenke, keine festen Mahlzeiten. Fehlen in den Familien vernachlässigter Kinder die Rituale?

Christoph Kazmierczak: In vielen. Manchmal wird einfach in den Tag hineingegammelt.
Claudia Smeets: Die Rituale finden dann in der Tafel statt. Man wartet dort, bis alle Kinder am Tisch sitzen und isst gemeinsam in kleinen Gruppen mit jeweils einem Erwachsenen. So, wie es eigentlich in der Familie sein sollte. Vor dem Essen wäscht man sich die Hände oder spricht je nach Gruppe ein Gebet.
Christoph Kazmierczak: Die Betreuer bestehen auch auf gewisse Regeln wie etwa die, nicht mit dem Essen zu spielen. Die einfachen Dinge, die man üblicherweise daheim lernt. Man redet, erzählt von seinem Tag in der Schule.

Das kann einem Kind allerdings zu Hause auch alles fehlen, wenn es statt gammelnden Eltern getriebene Karriereeltern hat.

Claudia Smeets: Exakt! Der Gesellschaft mangelt es nicht an Geld, sondern an Zeit. Die Kinder spüren, ob sie für jemanden nur eine Last sind oder ob sich jemand ganzen Herzens Zeit für sie nimmt. Sobald sie das Gefühl haben, jemand hört ihnen wirklich zu, ohne schon auf dem Sprung zu sein, sprudelt es aus ihnen heraus.

„Der Gesellschaft mangelt es nicht an Geld, sondern an Zeit.“
(Claudia Smeets)

Die Stabilität von Ritualen findet sich auch in der Religion. Wachsen diese Kinder allesamt eher konfessionslos auf? Oder praktizieren die Eltern ihre Religion nicht?

Christoph Kazmierczak: Bei den christlichen Familien ist das häufig der Fall. Die muslimischen Eltern halten den Glauben höher, aber das führt nicht automatisch dazu, dass sie sich besser um das Kind kümmern. Oder seine Integration fördern. In NRW bilden sich viele Ghettos und Parallelgesellschaften. Die Familien bleiben unter sich und niemand fördert eine andere Perspektive. Was passiert mit Kindern, die so aufwachsen? Die nicht daran glauben, dass ihr Leben eines Tages anders sein könnte? Sie hängen rum. Verbringen den Tag mehr oder weniger auf der Straße. Sie langweilen sich, und wer sich langweilt, kommt auf dumme Gedanken. Werden die Jugendlichen älter, begehen sie aus dieser Langeweile heraus Straftaten. Sie betrachten sie nicht mal als solche. Sie sagen: „Ja, da haben wir einem das Handy abgezogen.“ Man muss denen erklären: „Das ist keine Bagatelle! Keine Dummheit. Das ist schwerer Raubüberfall!“ Die Tafeln und anderen Einrichtungen, die wir unterstützen, bieten Orte, an denen sich die Kinder beschäftigen können und im Bestfall gar nicht erst zu älteren Kleinkriminellen werden.

Wer „abhängt“ und Mist baut, schwänzt gern und viel. Greifen die Tafeln ein, wenn sie das bemerken?

Claudia Smeets: Wer regelmäßig nach der Schule kommt, muss sich abmelden, wenn er mal keine Zeit hat. Bleibt ein Kind zwei Tage fort, ohne Bescheid zu sagen, hakt man bei den Eltern nach, ob alles in Ordnung ist. Meistens ist es das. Entscheidend und wichtig ist das Signal an das Kind: Wir machen uns Sorgen. Wir sind womöglich sogar sauer, wenn du einfach so wegbleibst, ohne etwas zu sagen. Weil wir dich lieb haben und nicht wollen, dass dir was passiert.
Christoph Kazmierczak: Niemals gleichgültig zu sein ist ebenfalls ein Zeichen der Wertschätzung.

Was passiert eigentlich, wenn ein Betreuer herausfindet, dass ein Kind von seinen Eltern nicht bloß vernachlässigt, sondern sogar geschlagen wird?

Christoph Kazmierczak: Sie reden mit den Eltern. Sie setzen das Jugendamt in Kenntnis. Während allem, was da kommt, versuchen sie dem Kind eine Schulter zu sein.

Hat sich durch den Flüchtlingsstrom viel in der Betreuung verändert?

Christoph Kazmierczak: Sie ist aufwendiger geworden. Wir kennen eine Kindertafel, die 90 Kinder betreut hat. Jetzt, kaum ein Jahr später, sind es schon 170. Die Räumlichkeiten platzen aus allen Nähten. Die Helfer werden knapp.

Man benötigt Dolmetscher …

Christoph Kazmierczak: Ja. Es werden Sprachkurse angeboten und Leseförderung. Natürlich treffen viele Kulturen aufeinander. Die Ehrenamtlichen müssen sehr fein auf die verschiedenen Mentalitäten einwirken und klar machen, dass es ein Miteinander gibt, in dem gewisse Regeln einzuhalten sind. Wobei das bei Kindern alles viel einfacher ist als bei Erwachsenen. Ihnen ist die Herkunft ihres Gegenübers meistens egal. Sie spielen einfach miteinander.

Solange sie wirklich noch klein sind.

Christoph Kazmierczak: Je älter sie werden, umso mehr kapseln sie sich ab. Sie bekommen es von ihren Familien vorgelebt. Wer schon 12 oder 14 Jahre alt ist, wenn er das erste Mal vorbeikommt, baut viel schwieriger Vertrauen auf. Was die Tafeln da sozialpsychologisch aufzufangen haben, wäre eigentlich in der Tat Aufgabe des Staates. Solange der es nicht schafft, muss es diese Einrichtungen geben. Wir haben bereits 17 Kindertafeln in NRW und selbst das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Eltern geben sich auf, Jugendliche hängen rum. Nun gibt es Stimmen, die daraufhin instinktiv sagen: Das liegt am bösen Kapitalismus. Zuviel Druck. Zuviel Ungleichheit. Der eingangs erwähnte Andreas Mohn behauptete im Gespräch in der letzten Ausgabe das Gegenteil: Nur die Marktwirtschaft ermöglicht Perspektive. Nur sie eröffnet jedem Einzelnen eine Aussicht auf Aufstieg. Nur der Wettbewerb treibt an.

Christoph Kazmierczak: Da widerspreche ich Herrn Mohn vehement. Motivation kommt nicht durch eine abstrakte Idee von Wettbewerb, sondern aus einem selbst sowie durch die Menschen, mit denen man sich umgibt. Klar ist der Blick frei auf all die tollen Chancen, wenn es einem von Haus aus gut geht und man sowieso schon alle Möglichkeiten hat. Umgeben mit Eltern, die sich aufgegeben haben und Menschen, die keine Perspektiven aufzeigen, spürt man das nicht. Sind Schulabschluss und Qualifikationen zu gering und die Anforderungen selbst für einfachere Berufe immer höher, ist es schwer, Motivation aufzubringen. Klar, theoretisch kann man alles erreichen. Aber denken Sie doch mal an die eigene Kindheit. Sind wir von uns aus voller Elan in die Schule gegangen? Haben wir von uns aus gute Noten erarbeitet? Nein. Erstmal haben wir für die Eltern und die Lehrer gelernt.

Wir haben aber auch Talente und Leidenschaften an uns entdeckt und uns in das gestürzt, was uns Freude machte und was wir besonder gut konnten.

Christoph Kazmierczak: Auch das muss man erstmal entdecken. Früher ist man raus gegangen und hat irgendwo gespielt. Schon das machen die Kinder längst nicht mehr so stark. Viele haben keine Idee, was sie eigentlich mit sich anfangen sollen.
Claudia Smeets: Womit wir schon wieder bei der emotionalen Armut wären. Es kostet schließlich nichts, mit den Kindern mal in den Wald zu gehen. Oder einfach nur vor die Tür. Es gibt Bäume da draußen. Wunderschöne Natur. Das verlieren viele aus den Augen.
Christoph Kazmierczak: Gehen die Eltern vor die Tür, gehen die Kinder vor der Tür. Wissen die Eltern, sich sinnvoll zu beschäftigen, kommen die Kinder ebenfalls auf gute Ideen. Hängen die Eltern nur herum, tun die Kinder gar nichts. Oder das Falsche.

„Nichts lässt eine Seele mehr vertrocknen als eine anregungsarme Umgebung.“
(Claudia Smeets)

Die Kindertafeln machen also auch hier Vorschläge?

Claudia Smeets: Sie organisieren Ausflüge. Das sind sehr wichtige Tage für die Kinder. Zum Beispiel das Erlebnis, mal einen Tag im Kletterwald zu verbringen. Solche schönen Aktionen müssen ebenfalls finanziert werden, wofür wir wieder auf den Plan treten.
Christoph Kazmierczak: Es hat überhaupt keinen Sinn, einer Hartz IV-Familie, die sich nicht um ihre Kinder kümmert, mehr Geld zu geben. Die Kinder brauchen Perspektiven und Erlebnisse. Wobei niemand den Kindern vorschreibt, was sie tun sollen oder nicht. Es werden Reize gesetzt und Optionen ermöglicht. Sporträume. Musikzimmer. Viele Kinder sind noch nie im Leben auf die Idee gebracht worden, ein Instrument in die Hand zu nehmen. Oder ein Buch abseits der Schule.

Und die Sozialkritiker schreien nach mehr Geld für Bildung. Dabei kostet Bildung gar nichts, wenn man sie wirklich anstrebt. Unsereins hat sich als Teenager in die Stadtbibliothek gesetzt und eine Welt entdeckt. Heute geht das sogar im Netz.

Christoph Kazmierczak: Nur eben nicht ohne Anstoß. Manchmal gehen die Betreuer mit den Kleinen auf einen Wochenmarkt und erklären: „Das ist ein Blumenkohl. Das ist Kohlrabi. Das sind Möhren mit Grün daran.“ Manche haben das Gemüse noch nie bewusst wahrgenommen oder eine Vorstellung davon, wo und auf welche Weise es wächst.
Claudia Smeets: Für ein Musikzimmer habe ich kürzlich mein Klavier gespendet, das ich seit dem 11. Lebensjahr bespielt habe. Man weiß nie, was alles so in einem Kind schlummert. Nichts lässt eine Seele mehr vertrocknen als eine anregungsarme Umgebung.
Christoph Kazmierczak: Wir erleben Fälle von Kindern, die zu Beginn kaum lesen konnten und nach der Leseförderung plötzlich die Bücher für sich entdeckt haben und zu begeisterten Leseratten wurden. Sie tauchen in diese Welten ab und blühen darin auf. Ja, es stimmt, materiell gesehen kostet Bildung nicht viel Geld. Die nötige Investition besteht in der Zeit, die Kinder dazu anzuregen und zu begleiten.

Gab es ein Schlüsselerlebnis zur Gründung des Vereins?

Christoph Kazmierczak: Ich habe die Kinderhelfer mit Herz gegründet, weil es mir weh tat zu sehen, wie wenig bei anderen Organisationen vom Geld bei den Bedürftigen ankommt. Nach einer ganzen Weile der Aufregung und Empörung dachte ich mir: Mach es doch selber. Mach es besser. Ich suchte nach Mitstreitern, die meine Auffassung teilen, und wir gründeten den Verein. Seither geht jeder Cent, der reinkommt, in die Förderung der Projekte. Kosten für Verwaltung, Sprit oder Bürobedarf zahlen wir aus eigener Tasche.

Wie hoch ist der Aufwand?

Christoph Kazmierczak: Es geht nicht immer um Millionen. Das sagen wir auch unseren potentiellen Spendern. Ein Frühstücksbeutel kostet die Kindertafel 50 Cent, ein Mittagessen einen Euro. Eine Spende von 30 Euro sichert einem Kind somit einen ganzen Monat Mittagessen. Mit all den unbezahlbaren positiven Erlebnissen, die daran hängen. Wir sind schnell, lokal und vollkommen unbürokratisch. Für die Kindertafeln bilden wir so was wie die Feuerwehr. Ruft uns eine Einrichtung an, der für die kommende Woche die Mittel ausgegangen sind, müssen sie bei uns keinen Antrag stellen. Wir überweisen das Geld sofort. Deswegen beschränken wir uns auch auf NRW. Vor der eigenen Haustür gibt es so viel zu tun, dass es Unsinn wäre, Hunderte von Kilometer quer durch ganz Deutschland zu eilen.

Wo ist die Not in NRW am größten? Im Ruhrgebiet?

Christoph Kazmierczak: Das denkt man, aber auch große, reiche Städte wie Düsseldorf oder Köln haben immense Armut. In Köln gibt es 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Düsseldorf hat 16.000 Kinder, die in Armut oder an der Armutsgrenze leben.

Was ist eigentlich aus den guten, alten, kommunal betriebenen Jugendzentren geworden?

Christoph Kazmierczak: Die werden immer mehr geschlossen, weil dafür keine Gelder da sind. In solche Einrichtungen zu investieren, ist politisch nicht gewollt.

Wieso nicht?

Christoph Kazmierczak: Weil die Arbeit eines Jugendzentrums der Kommune keine zählbaren Erfolge liefern kann. Es hat keinen Glanz. Einen neuen Park oder irgendwelche Prestige-Projekte kann man vorzeigen und vermarkten. Daran sind die meisten Kommunen interessiert. Eine beständige Jugendbetreuung, die in langsamen Schritten dazu führt, dass ein Dutzend Kinder einen besseren Schulabschluss gemacht haben werden, ist nicht so klar zu fassen.


Kurzinterview mit Sarah Alles, Schirmherrin der Kinderhelfer mit Herz

„Eigentlich kann jeder irgendetwas machen.“

Berlin, 19.03.16. Die Schauspielerin Sarah Alles ist Schirmherrin der Kinderhelfer mit Herz. Bei einem frühlingshaften Treffen erzählt sie, warum.

Interview: Edda Bauer, Foto: Julia von der Heide

Wie sind Sie zu Kinderhelfer mit Herz e.V. gekommen?

Ich habe den Initiator Christoph Kazmierczak durch eine gemeinsame Freundin kennengelernt. Er hat mich schon allein dadurch beeindruckt, dass er tatsächlich alles selber macht, und das wirklich mit Herz. Der Verein heißt nicht ohne Grund so. Christoph sortiert und lagert zum Beispiel Kleiderspenden bei sich zu Hause, bis sie umverteilt werden. Er packt überall mit an, wo Tatkraft gebraucht wird. Ein richtiger Selfmademan.

Was können Sie als Schirmherrin tun?

Den Verein bekannter machen, so dass die Menschen wissen, wie sie helfen können. Das geht natürlich nur bei Projekten, hinter denen ich voll und ganz stehe. Besonders gefällt mir bei Kinderhelfer mit Herz e.V., dass alle Spenden gänzlich bei den Projekten ankommen. Es geht also nicht, wie bei manchen großen Hilfsorganisationen, ein Teil allein schon für die Verwaltung und Bürokratie drauf. Alles kommt restlos bei den Kindern an. Ich sehe meine Aufgabe als Schirmherrin auch darin, dass sich jemand durch mich aufgerufen fühlt, selbst Teil des Netzwerks an Helfern zu werden. So wie ich.

Wo packen Sie mit an?

Zum Beispiel bei meinem Kleiderschrank, in dem sich immer wieder Sachen finden, die ich nur ein paar Mal angezogen und dann vergessen habe. Da ich mit meinen 1,63 Meter ja nicht gerade riesig bin, gibt es einige Mädchen, denen meine Klamotten passen. Hin und wieder fahre ich auch nach Düsseldorf und Umgebung in Jugendeinrichtungen, um dort den Kindern vorzulesen. Das wird immer sehr dankbar angenommen.

Was springt für Sie bei der Sache heraus?

Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und helfen zu können, reicht mir völlig aus. Ein Haufen Spaß und tolle Erfahrungen begleiten mich dabei. Ich wollte mich schon früher sozial engagieren, wusste aber nicht wie. Meine Möglichkeiten erschienen mir zu gering. Ich glaube, so geht es vielen. Organisationen wie die Kinderhelfer mit Herz, die wirklich etwas bewegen, kann man auch mit kleinen Dingen unterstützen, sei es in Form von finanziellen Mitteln, Sachspenden oder indem man den Kindern gelegentlich seine Zeit widmet. Eigentlich kann jeder irgendetwas machen.


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Zur Person

Christoph Kazmierczak ist diplomierter Betriebs- und Volkswirt sowie psychologischer Berater, Personal Coach und Experte für Körpersprache. Lange arbeitete er als Trainer für Führungskräfte und Manager, aber auch als Bewerbungsberater für Schüler und Studierende. Heute ist er in der Sicherheitsbranche tätig. Claudia Smeets arbeitet in der Eventorganisation sowie der Kunden- und Gästebetreuung, von 2011 bis 2014 etwa für das bedeutende ATP-Tennis-Turnier „Düsseldorf Open“. Christoph Kazmierczak lebt in Meerbusch, Claudia Smeets ist in der Landeshauptstadt ansässig.

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