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Claudia Smeets und Christoph Kazmierczak

„Kinder glauben das, was die Eltern ihnen vorleben.“

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  • Sebastian Mölleken
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Meerbusch, 17.03.2016. Wer an dem kalten, aber von kristallklarem Licht gesegneten Frühlingstag einen Blick in das Café & Confiserie Adams wirft, käme wohl kaum auf die Idee, dass die gut gekleideten Herrschaften dort vor dem Mikrofon über die harte Wirklichkeit sozialer Abgründe sprechen. Eher sehen die beiden Köpfe hinter „Kinderhelfer mit Herz e.V.“ auf den ersten Blick wie Geschäftsleute aus. Was Sie im echten Leben auch sind. In Ihrer Freizeit widmen sie sich mit vollem Einsatz der Unterstützung von Einrichtungen wie den Kindertafeln in NRW, die weit mehr als bloß materielle Notversorger sind. Schnell wird im Gespräch klar: Wer die Kinderarmut bekämpft, beschäftigt sich vor allem mit emotionaler Vernachlässigung.

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Frau Smeets, Herr Kazmierczak, in der letzten Ausgabe dieses Magazins haben wir an dieser Stelle die Andreas Mohn Stiftung vorgestellt, die sich u.a. um die Förderung sowohl minderbegabter wie auch hochbegabter Kinder kümmert. Sie setzen noch viel grundlegender an und beschäftigen sich mit Kinderarmut. Wie zeigt die sich in einem Wohlfahrtstaat, dessen Sozialsystem Familien mit Kindern eigentlich gut unterstützt?

Christoph Kazmierczak: Sie ist nicht auf die gleiche Weise zu erkennen wie in den sogenannten Drittweltländern. In Deutschland sitzen keine Kinder bettelnd und in Lumpen auf der Straße. Gleichwohl leben zum Beispiel in unserem reichen Bundesland NRW rund eine Millionen Kinder knapp an oder bereits unter der Armutsgrenze.

Wie definiert sich das?

Christoph Kazmierczak: Vor allem dadurch, wie stark diese Kinder von ihren Eltern vernachlässigt werden. Ihnen wird kein Mittagessen gekocht. Sie werden in die Schule geschickt, ohne auch nur ein Pausenbrot in der Tasche zu haben. Es ist ein Klischee, aber es trifft zu: Ihre Eltern sitzen lieber vor dem Fernseher, als sich um die Kinder zu kümmern. Die meisten von ihnen leben von Hartz IV.

Dessen Grundbetrag ist zwar niedrig, aber plus Kindergeld, Wohngeld und anderer Zuschüsse bzw. Kosten, die der Staat übernimmt, reicht es definitiv für Mittagessen und Pausenbrote.

Christoph Kazmierczak: Würde es. Wenn es bei den Kindern ankäme. Das ist die Schande und die Tragik, der wir jeden Tag begegnen. Eltern, die im Monat mehr von dem vorhandenen Geld für Zigaretten ausgeben als für ihre Kinder.

Es stimmt also, wenn manche am Stammtisch schimpfen, eine kinderreiche Hartz-IV-Familie bekäme unterm Strich sogar mehr als so mancher festangestellter Hilfsarbeiter auf dem Bau?

Christoph Kazmierczak: So betrachtet stimmt das Klischee, und es wird tatsächlich sogar „zuviel“ bezahlt, wobei ich das „zuviel“ ausdrücklich in Anführungsstriche setzen möchte. Die Kinder sind allerdings das schwächste Glied in der Kette, und das Geld erreicht sie nicht. Man muss es so hart feststellen: Leider Gottes lieben nicht alle Eltern ihre Kinder so, dass diese für sie an erster Stelle stehen. Hier treten wir auf den Plan oder besser gesagt: Die Kindertafeln. Um diese Kinder aufzufangen. Bei der Kindertafel geht es nicht „nur“ um das Frühstück am morgen oder die eine warme Mahlzeit am Nachmittag. Es geht darum, dass die Kinder endlich mal von jemandem in den Arm genommen werden. Dass sie Perspektiven aufgezeigt bekommen und doch noch einen guten Schulabschluss machen, um später einen Ausbildungsplatz zu kriegen.

Sie bilden eine Ersatzfamilie?

Christoph Kazmierczak: So darf man das nennen. Bei den Tafeln bekommen die Kinder eine Art von Unterstützung, Wärme und Zuwendung, die sie von zu Hause teilweise nicht kennen.
Claudia Smeets: Manche Kritiker behaupten ja, es dürfe diese ehrenamtlichen Institutionen wie die Tafeln überhaupt nicht geben, weil sie den Staat von seiner Verantwortung entlasten würden und der sich eines Tages womöglich aus dem sozialen Engagement zurückzieht. Aber zum einen geht es eben, wie Chris richtig sagte, nicht bloß ums Geld, und zum anderen sind die Kinder nun mal da. Man kann nicht sagen: Bevor wir ihnen helfen, stellen wir erst mal in aller Ruhe ein ganz neues System auf die Beine.

„Leider Gottes lieben nicht alle Eltern ihre Kinder so, dass diese für sie an erster Stelle stehen.“
(Christoph Kazmierczak)

Wie kann man sich die Kinder und Jugendlichen, die zu den Tafeln gehen, vorstellen? Entstammen sie vornehmlich den, wie man so sagt, bildungsfernen Schichten?

Christoph Kazmierczak: Armut hat natürlich nicht zwangsläufig mit mangelnder Intelligenz zu tun, und es gibt dort auch Kinder vom Gymnasium, aber die meisten kommen in der Tat von der Haupt- oder Sonderschule. Sie besuchen diese Schulformen aber nicht, weil sie dumm wären, sondern weil sie daheim niemand fördert. Keiner sagt ihnen, wie wichtig es ist, zu lernen oder seine Hausaufgaben zu machen. Das fangen die Tafeln wieder auf. Sie bieten Nachhilfe an und Leseförderung. Nach einer Weile entdecken die Kinder das erste Mal den Spaß am Lernen. Sie sehen persönliche Erfolge. Manche werden befähigt, eine höhere Schule zu besuchen und sind daraufhin mächtig stolz auf sich.

Mit welcher Haltung kommen die jungen Menschen denn dort an?

Christoph Kazmierczak: Zunächst etwas verschüchtert. Hier muss man eine Lanze für die Lehrer brechen, auf denen viel zu viel herumgehackt wird. Sie erkennen, welche ihrer Schüler diese Unterstützung benötigen könnten, nehmen sie an die Hand und gehen das erste Mal gemeinsam mit ihnen da hin. Manchmal regen auch Freunde ein Kind dazu an. Von selber würde natürlich keiner auf die Idee kommen. Nach einer Weile gefällt es den meisten dort so gut, dass sie von alleine Stammgäste werden.
Claudia Smeets: Manche merken auch in der Schule, dass sich andere Kinder am morgen erst mal mit Broten, Getränken und Obst eindecken und werden neugierig.
Christoph Kazmierczak: Um mal eine Zahl zu nennen: Eine Kindertafel schmiert am Tag 1.600 Brote. Das sind 800 Frühstücksbeutel. Sie werden in der Schule selbst stationiert, wo sich jedes Kind, das möchte, daran bedienen darf, auch wenn es „eigentlich“ nicht bedürftig ist und vielleicht einfach nur sein Proviant daheim vergessen hat. Das ist sinnvoll, denn auf diese Weise sticht man als „armes Kind“ nicht so heraus und wird weniger stigmatisiert.

Wie sieht’s mit dem Vorurteil aus, dass viele Jugendliche heute eine fatalistische Haltung nach dem Motto haben: „Ich lande entweder auf Hartz IV oder gehe zu einem Casting. Anderweitig habe ich sowieso keine Chance.“

Claudia Smeets: Kinder glauben das, was die Eltern ihnen vorleben. Wir alle haben uns unsere Verhaltensweisen und Überzeugungen über die Welt zu Beginn von den eigenen Eltern abgeschaut. Wissen die, was sie wollen und gehen einen aktiven Weg, überträgt sich das auf die Kinder. Bei den Eltern der von uns unterstützten Kinder ist das selten der Fall.
Christoph Kazmierczak: Sie leben eine „Null Bock!“-Haltung vor. Sie sagen: „Mit deinem Hauptschulabschluss hast du sowieso keine Chance, einen guten Job zu bekommen. Guck uns an, wir haben auch keinen ergattern können.“ Diese Einstellung geben sie an ihre Kinder weiter. Wir als Erwachsene können uns aussuchen, welcher Haltung wir folgen und wem wir glauben wollen. Als Kind hast du keine Wahl. Bis zu einem gewissen Alter orientierst du dich an Eltern und Verwandten, danach an den Freunden. Die Kindertafeln brechen auch diese Einseitigkeit auf. Hier bekommen die Kinder das erste Mal andere Perspektiven. Sehen erstmals, dass die Welt nicht nur schwarz-weiß ist. Bekommen Wertschätzung entgegengebracht. Einfache Sätze wie „Das hast du gut gemacht“ oder „Siehst du, es klappt doch“ haben manche zu Hause noch nie gehört.

Was für Menschen arbeiten bei der Tafel?

Christoph Kazmierczak: Häufig sind es welche, die selber Hartz IV empfangen, Kinder sehr lieben, aber keine eigenen haben. Menschen, die es nicht fassen können, dass jemand seine Kinder nicht liebt und nicht unterstützt. Rentner engagieren sich ebenfalls, oft ehemalige Lehrer in Pension, die dann auch Nachhilfe geben. Man muss sich das ganz praktisch vorstellen: Diese Leute stehen freiwillig morgens um 4:30 Uhr auf, um 1.600 Brote zu schmieren und zu verpacken. Dieses Land würde vor die Hunde gehen, wenn es seine Ehrenamtlichen nicht hätte. Wir achten im Übrigen ganz bewusst darauf, ausschließlich Einrichtungen zu unterstützen, die ausnahmslos ehrenamtlich arbeiten.

Es gibt also auch Tafeln mit Angestellten?

Christoph Kazmierczak: Natürlich, manche Einrichtungen sind staatlich betrieben und die Leute beziehen Gehalt. Wir möchten reines soziales Engagement unterstützen, da wir den Hut vor Menschen ziehen, die ihre Freizeit dafür opfern. Für sie versuchen wir, so viel Geld und Mittel wie möglich zu organisieren.
Claudia Smeets: Eine Kindertafel, die wir unterstützen betreibt einen LKW, der durch Spenden finanziert wurde. Ein Rentner fährt damit herum und schaut, wo er Möbel auftreiben kann. So etwas ähnliches machen wir auch gerne. Kommt uns zu Ohren, dass irgendwo dringend ein Kinderbettchen, ein Schlafzimmerschrank oder eine Küche gebraucht wird, aktivieren wir unser breites Netzwerk, telefonieren herum oder funken die Suche über Facebook und Twitter. Finden wir das Gesuchte, organisieren wir ein Fahrzeug und jemanden, der die Sachen transportieren kann.

„Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in einer Kinderseele vorgeht, wenn ein Junge schon im Sommer darüber nachdenkt, wie er den Nikolaus milde stimmen kann.“
(Christoph Kazmierczak)

Die Kinderhelfer unterstützen somit auch die Familien der Kinder? Es klang bislang nicht so, dass die Eltern Unterstützung verdient hätten.

Claudia Smeets: Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Ja, es gibt diese Leute, die ihr Geld für Alkohol und Zigaretten verballern. Es gibt aber auch die alleinerziehenden Mütter, die den aufrichtigen Willen haben, ihrem Kind etwas Gutes zu tun und dafür jeden Cent zusammenkratzen. Oder die alleinerziehenden Väter, die es ja auch längst gibt.

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