Claudia Smeets und Christoph Kazmierczak

März 2016 / Seite 2 von 3

Werden manche Eltern nicht eifersüchtig, wenn die Menschen bei der Tafel einen besseren Draht zu ihren Kindern aufbauen als sie selbst? Sabotieren manche, dass ihre Kinder dort hingehen?

Christoph Kazmierczak: In seltenen Fällen gibt es das tatsächlich. Meistens genügt es, einen vernünftigen Dialog mit den Eltern zu führen und ihnen deutlich zu machen, dass nichts gegen ihren Willen passiert. Wenn gar nichts hilft, appelliert man an den ohnehin vorhandenen Egoismus der Eltern und sagt: „Schauen Sie Mal, wenn Ihr Kind schon bei der Tafel gegessen hat, brauchen Sie zu Hause nicht mehr zu kochen.“

Man muss die egozentrische Faulheit mancher Eltern zum Vorteil Ihrer Kinder ausnutzen?

Christoph Kazmierczak: In wirklich seltenen Fällen. Manchen wiederum ist dermaßen egal, wo ihre Kinder sind, dass ihnen folglich auch egal ist, ob sie auf der Straße rumhängen oder zur Tafel gehen. Wir kennen einen Fall, da wollte ein Junge einfach nur in den Fußballverein. Der Monatsbeitrag hätte 16 Euro gekostet. Seine Eltern verrauchten ganze 200 Euro im Monat und waren nicht bereit, auch nur drei Schachteln für ihr Kind wegzulassen. Man kann es manchmal nicht fassen. Dann gibt es das extreme Gegenbeispiel einer Mutter, die sich den gelegentlichen Eisbecher für ihre Tochter im wörtlichen Sinne vom Mund absparte. Die mit fast keinem Geld, aber großer Fantasie alles für das Glück ihres Mädchens unternahm. Von einer Baustelle holte sie sich eine dieser riesigen, runden Kunststoffspindeln, auf die Schläuche aufgewickelt werden. Sie malte das Ding gemeinsam mit ihrer Kleinen an und nutzte es danach als bunten Wohnzimmertisch. Das ist Liebe. Ich muss aufpassen, dass mir hier nicht die Tränen kommen, wenn ich daran denke.

Wieviel persönlichen Kontakt haben Sie im Schnitt zu den Eltern?

Christoph Kazmierczak: Wenig. Wir hätten auch gar nicht die Zeit, auch noch wie Sozialarbeiter oder Psychologen in die Familien zu gehen. Tagsüber arbeiten wir und in unserer Freizeit wenden wir unsere Energie dafür auf, Straßenfeste, Konzerte, Lesungen oder andere Benefizveranstaltungen auf die Beine zu stellen, die Spendengelder generieren. Wir veranstalten Feste und Weihnachtsfeiern. Der Lions Club Düsseldorf Jan Wellem stellt jedes Jahr ein Golfturnier auf die Beine und spendet uns alle Erlöse. So etwas können wir tun, dafür sind wir qualifiziert; nicht dafür, heillos festgefahrene Familienprobleme aufzubrechen.
Claudia Smeets: In der Beobachtung der Familien vertrauen wir auch den Leitern der Kindertafeln oder anderer Jugendeinrichtungen. Sie haben die Verhältnisse im Hintergrund ganz gut im Blick.

Welche Geschichte hat Sie in den bisherigen Jahren des Vereins am meisten gerührt?

Christoph Kazmierczak: In der Kindertafel sah ich einen kleinen Jungen ein Bild malen. Den Nikolaus. Das Seltsame: Es war Hochsommer, ein brütend heißer Tag im Juli. Ich sage: „Du malst aber ein schönes Bild. Aber wieso malst du den Nikolaus im Sommer?“ Da antwortet der Junge: „Damit er mich lieb hat und auch mal zu mir kommt.“ Im Nachgang habe ich dann erfahren, das dieser sechsjährige Junge, solange er auf der Welt ist, noch nie Weihnachten erlebt hat. Seine Eltern haben ihm kein einziges Geschenk gemacht, nicht einmal zum Geburtstag. Er gab sich selber die Schuld daran. Glaubte, dass er nicht lieb genug gewesen sei. Malte den Nikolaus im Juli, damit er im Dezember zu ihm kommt.

Was haben Sie gemacht?

Christoph Kazmierczak: Die Kindertafel hat speziell für diesen einen Jungen eine richtige Weihnachtsfeier veranstaltet. Mit Christbaum und allem. Das hat ihn so sehr emotional berührt, dieses Glück können Sie sich nicht vorstellen. Für ihn wurde die Kindertafel tatsächlich zur zweiten Familie. Erst hier begriff er: Dass ich so behandelt werde, ist nicht meine Schuld. Ich kann was. Ich bin was.
Claudia Smeets: Für Kinder wie ihn sind die Betreuerinnen und Betreuer irgendwann wie Verwandte. Wie Onkel und Tante oder Opa und Oma. Der Junge ist ein gutes Beispiel dafür, was Eltern anrichten können und wie wichtig es ist, dass jemand kommt und sagt: „Du hast keine Schuld. Das Leben kann auch schön sein.“
Christoph Kazmierczak: Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in einer Kinderseele vorgeht, wenn ein Junge schon im Sommer darüber nachdenkt, wie er den Nikolaus milde stimmen kann. Das geht tief. Da merke ich wirklich, wie mir tatsächlich jetzt die Tränen kommen.

Kein Weihnachten, keine Geschenke, keine festen Mahlzeiten. Fehlen in den Familien vernachlässigter Kinder die Rituale?

Christoph Kazmierczak: In vielen. Manchmal wird einfach in den Tag hineingegammelt.
Claudia Smeets: Die Rituale finden dann in der Tafel statt. Man wartet dort, bis alle Kinder am Tisch sitzen und isst gemeinsam in kleinen Gruppen mit jeweils einem Erwachsenen. So, wie es eigentlich in der Familie sein sollte. Vor dem Essen wäscht man sich die Hände oder spricht je nach Gruppe ein Gebet.
Christoph Kazmierczak: Die Betreuer bestehen auch auf gewisse Regeln wie etwa die, nicht mit dem Essen zu spielen. Die einfachen Dinge, die man üblicherweise daheim lernt. Man redet, erzählt von seinem Tag in der Schule.

Das kann einem Kind allerdings zu Hause auch alles fehlen, wenn es statt gammelnden Eltern getriebene Karriereeltern hat.

Claudia Smeets: Exakt! Der Gesellschaft mangelt es nicht an Geld, sondern an Zeit. Die Kinder spüren, ob sie für jemanden nur eine Last sind oder ob sich jemand ganzen Herzens Zeit für sie nimmt. Sobald sie das Gefühl haben, jemand hört ihnen wirklich zu, ohne schon auf dem Sprung zu sein, sprudelt es aus ihnen heraus.

„Der Gesellschaft mangelt es nicht an Geld, sondern an Zeit.“
(Claudia Smeets)

Die Stabilität von Ritualen findet sich auch in der Religion. Wachsen diese Kinder allesamt eher konfessionslos auf? Oder praktizieren die Eltern ihre Religion nicht?

Christoph Kazmierczak: Bei den christlichen Familien ist das häufig der Fall. Die muslimischen Eltern halten den Glauben höher, aber das führt nicht automatisch dazu, dass sie sich besser um das Kind kümmern. Oder seine Integration fördern. In NRW bilden sich viele Ghettos und Parallelgesellschaften. Die Familien bleiben unter sich und niemand fördert eine andere Perspektive. Was passiert mit Kindern, die so aufwachsen? Die nicht daran glauben, dass ihr Leben eines Tages anders sein könnte? Sie hängen rum. Verbringen den Tag mehr oder weniger auf der Straße. Sie langweilen sich, und wer sich langweilt, kommt auf dumme Gedanken. Werden die Jugendlichen älter, begehen sie aus dieser Langeweile heraus Straftaten. Sie betrachten sie nicht mal als solche. Sie sagen: „Ja, da haben wir einem das Handy abgezogen.“ Man muss denen erklären: „Das ist keine Bagatelle! Keine Dummheit. Das ist schwerer Raubüberfall!“ Die Tafeln und anderen Einrichtungen, die wir unterstützen, bieten Orte, an denen sich die Kinder beschäftigen können und im Bestfall gar nicht erst zu älteren Kleinkriminellen werden.

Wer „abhängt“ und Mist baut, schwänzt gern und viel. Greifen die Tafeln ein, wenn sie das bemerken?

Claudia Smeets: Wer regelmäßig nach der Schule kommt, muss sich abmelden, wenn er mal keine Zeit hat. Bleibt ein Kind zwei Tage fort, ohne Bescheid zu sagen, hakt man bei den Eltern nach, ob alles in Ordnung ist. Meistens ist es das. Entscheidend und wichtig ist das Signal an das Kind: Wir machen uns Sorgen. Wir sind womöglich sogar sauer, wenn du einfach so wegbleibst, ohne etwas zu sagen. Weil wir dich lieb haben und nicht wollen, dass dir was passiert.
Christoph Kazmierczak: Niemals gleichgültig zu sein ist ebenfalls ein Zeichen der Wertschätzung.

Was passiert eigentlich, wenn ein Betreuer herausfindet, dass ein Kind von seinen Eltern nicht bloß vernachlässigt, sondern sogar geschlagen wird?

Christoph Kazmierczak: Sie reden mit den Eltern. Sie setzen das Jugendamt in Kenntnis. Während allem, was da kommt, versuchen sie dem Kind eine Schulter zu sein.

Hat sich durch den Flüchtlingsstrom viel in der Betreuung verändert?

Christoph Kazmierczak: Sie ist aufwendiger geworden. Wir kennen eine Kindertafel, die 90 Kinder betreut hat. Jetzt, kaum ein Jahr später, sind es schon 170. Die Räumlichkeiten platzen aus allen Nähten. Die Helfer werden knapp.

Man benötigt Dolmetscher …

Christoph Kazmierczak: Ja. Es werden Sprachkurse angeboten und Leseförderung. Natürlich treffen viele Kulturen aufeinander. Die Ehrenamtlichen müssen sehr fein auf die verschiedenen Mentalitäten einwirken und klar machen, dass es ein Miteinander gibt, in dem gewisse Regeln einzuhalten sind. Wobei das bei Kindern alles viel einfacher ist als bei Erwachsenen. Ihnen ist die Herkunft ihres Gegenübers meistens egal. Sie spielen einfach miteinander.

Solange sie wirklich noch klein sind.

Christoph Kazmierczak: Je älter sie werden, umso mehr kapseln sie sich ab. Sie bekommen es von ihren Familien vorgelebt. Wer schon 12 oder 14 Jahre alt ist, wenn er das erste Mal vorbeikommt, baut viel schwieriger Vertrauen auf. Was die Tafeln da sozialpsychologisch aufzufangen haben, wäre eigentlich in der Tat Aufgabe des Staates. Solange der es nicht schafft, muss es diese Einrichtungen geben. Wir haben bereits 17 Kindertafeln in NRW und selbst das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Seite 2 von 3