Sahra Wagenknecht
„Man muss den Zweifel zulassen.“
Zur Person
Sahra Wagenknecht (geboren am 16. Juli 1967 in Jena) wuchs in einem 400-Seelen-Dorf bei Jena bei ihren Großeltern auf. Mit Schulbeginn wohnte sie bei ihrer Mutter, einer Kunsthändlerin, in Ost-Berlin. Der Vater, ein Iraner, musste, als Sahra drei Jahre alt war, in seine Heimat zurück und gilt seither als verschollen. Ihren Namen, der amtlich Sarah lautete, änderte sie 2009 entsprechend der persischen Schreibweise. Als Politikerin engagierte sich Wagenknecht in der PDS, wurde 2007 Mitglied des Parteivorstands der Linkspartei. Von dem innerparteilichen linken Spektrum rückte sie zusehends in die Mitte, so äußerte sie sich 1992 noch positiv zur DDR, distanzierte sich später aber davon. Von 2004 bis 2009 saß Wagenknecht im Europaparlament, von 2015 bis 2019 war sie Fraktionsvorsitzende der Linken. Wagenknechts Veröffentlichungen und Positionen haben häufig zu heftigen Kontroversen innerhalb und außerhalb ihrer Partei geführt, aktuell zum Beispiel zum Thema Impfung. Seit 2014 ist sie mit dem Linken-Politiker Oskar Lafontaine verheiratet; das Paar lebt im saarländischen Merzig.
12. November 2021, Merzig im Saarland. Eigentlich wäre heute ein Berlin-Tag. Doch Sahra Wagenknecht ist krankgeschrieben und zu Hause, eine Magen-Darm-Geschichte. Sie hält ihre Zusage für das Interview trotzdem ein; wir telefonieren zur Mittagsstunde. Es gehe ihr, wie sie berichtet, schon ein bisschen besser, sie habe die ganze Woche viel geschlafen, so viel wie schon lange nicht mehr. Von ihrem Lesesessel aus, zwischen zwei Bücherwänden, fragt sich die Linken-Politikerin, was eigentlich los ist in diesem Land. Als die Sprache auf ihre Kindheit kommt, geht es um viel Schmerz, um die Hänseleien ihrer Mitschüler, um den Verlust des Vaters. So unnahbar sie oft in Talkshows wirkt, so nahbar ist sie im Gespräch. Kein Versteckspiel hinter Phrasen und Parolen.
Sahra Wagenknecht, sind Sie damit einverstanden, Sahra Wagenknecht zu sein?
Im Großen und Ganzen schon. Wobei ich mich natürlich manchmal gefragt habe, ob dieser Weg in die Politik der richtige war; er war nicht vorgezeichnet. Diejenigen, die mich aus der Kindheit kennen, sagen, sie hätten sich für mich alles Mögliche vorstellen können. Dass ich wissenschaftlich arbeite oder Autorin werde, aber nie und nimmer, dass ich in die Politik gehe. Bevor ich mit 35 Jahren hauptamtlich Politikerin wurde, war ich ja freiberufliche Publizistin. Ich bin jemand, der lieber am Schreibtisch arbeitet oder ein Buch liest als in einer Gremiumssitzung zu sitzen. Und das ist nicht gerade ein Vorzug, der einen zum Politiker disponiert.
Dennoch haben Sie sich dafür entschieden.
Weil ich das Gefühl hatte, es reicht nicht, nur nachzudenken und aufzuschreiben, sondern dass es auch darum geht, etwas zu verändern, etwas zu bewirken, Menschen für eine Position zu gewinnen. Ich kann immer noch nicht sagen, ob ich als Politikerin mehr erreichen kann oder ob ich als Ökonomin oder Buchautorin etwas schaffen könnte, was einen viel bleibenderen Wert hätte. Mein Burn-out damals entstand auch deshalb, weil ich das Gefühl hatte, dass ich zu wenig bewege.