Gratis-Interview Pinar Atalay

Pinar Atalay

„Die Geschichten von Arbeiterkindern müssen sichtbarer werden.“

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  • Frederike Wetzels
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10. November 2021, Berlin. Pinar Atalay ist in der Hauptstadt, weil sie dort eine Woche lang RTL Direkt moderiert. In der Woche drauf geht’s nach Köln, wo sie dann für RTL Aktuell vor der Kamera steht. Die Nachrichtenmoderatorin hat sich bereits an den Rhythmus ihres neuen Arbeitgebers gewöhnt: Zum 1. August wechselte die Journalistin von der ARD zum Privatsender. Einer ihrer ersten Jobs: die Moderation eines der Trielle vor der Bundestagswahl, zusammen mit RTL-Urgestein Peter Kloeppel. In unserem Gespräch geht es um diese besondere Erfahrung, dazu um ihr erstes Buch „Schwimmen muss man selbst“, in dem sie vom Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie erzählt.

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Pinar Atalay, Sie gelten als News-Junkie. Wann fallen Ihnen Nachrichten auf die Nerven?

Ich bin eher genervt und nervös, wenn ich keine News bekomme. (lacht) Das Erste, was ich morgens mache, ist, das Smartphone zu sichten, um zu checken, was passiert ist. Und so geht das dann den ganzen Tag weiter, ich verfolge konstant die Entwicklungen. Das habe ich übrigens von meinem Vater, der ist genauso. Darüber hinaus bin ich Teil einer wunderbaren Chat-Gruppe aus dem RTL-Hauptstadtstudio, in der immer wieder interessante Hintergrundinformationen gepostet werden. So richtig abstellen kann und will ich das nicht.

Auch nicht im Urlaub?

Ich kann schon auch mal fünfe gerade sein lassen, allein aufgrund meiner Familie. Was ich aber aktuell als sehr herausfordernd empfinde, ist die Schweigsamkeit rund um die Sondierungs- und Koalitionsgespräche. Es drang und dringt ja tatsächlich fast nichts in die Öffentlichkeit. Ab und zu trifft man in Berlin mal jemanden, bei dem man nachfragen kann, aber auch dann erfährt man nur ganz wenig – für meinen Geschmack ist das nicht genug.

Nur für Ihren Geschmack? Oder ist diese Schweigsamkeit bei einem solchen Prozess generell nicht geboten?

Die Verhandlerinnen und Verhandler wollen auf vertraulicher Ebene miteinander sprechen, sie wollen, dass das, was beredet wird, nicht gleich wieder zerschossen wird. Das kann ich aus deren Sicht absolut nachvollziehen. Für eine Journalistin ist das natürlich ein schwieriger Ansatz. Ich finde aber auch, dass die Öffentlichkeit einen gewissen Anspruch darauf hat, zu erfahren, was diejenigen, die man gewählt hat und die eine Regierung bilden möchten, vorhaben.

Das erfährt man aber doch dann, wenn der Koalitionsvertrag steht.

Gut, aber es ist schon interessant zu sehen, wie nach und nach einige Wahlversprechen fallen. Von der Vermögenssteuer ist keine Rede mehr, Tempo 130 ist offensichtlich auch vom Tisch. Solche Entscheidungen sind für mich als Journalistin Aspekte, an denen wir messen können, was mit den vielen Versprechen passiert, die zum Beispiel bei uns im RTL-Triell gemacht worden waren.

Sind Sie sich bewusst, dass Sie bei den Triellen die Einzige waren, die den beinahe unantastbaren Olaf Scholz schlagen konnte?

Ist das so?

Zumindest hat das Hamburger Abendblatt so getitelt: „Triell auf RTL: Die große Gewinnerin ist Pinar Atalay.“ Sie haben später gesagt, Sie seien vorab nicht nervös gewesen. Waren Sie denn nach dem Triell zumindest erleichtert?

Ich war zufrieden, ja. Ich hatte vor, aber auch nach dem Triell ein gutes Gefühl, ganz einfach deshalb, weil eine solche Debatte für eine politische Fernsehjournalistin die spannendste Sendung ist, die es zu moderieren gibt. Nach der Ausstrahlung, als die drei sich schon zurückgezogen hatten, standen Peter Kloeppel und ich zusammen, schauten uns in die Augen und sagten: „Super.“ Es war gut gelaufen, die intensive Vorbereitung hatte sich ausgezahlt – und es hat auch zwischen uns beiden funktioniert, obwohl wir uns ja noch nicht lange persönlich kannten. Er ist ein RTL-Urgestein, ich war gerade erst von der ARD gekommen.

Was haben Sie über Baerbock, Laschet und Scholz erfahren, was Sie zuvor noch nicht wussten?

Es war spannend, die drei zusammen zu sehen. Ich kannte sie aus Einzelinterviews, vor allem mit Armin Laschet und Olaf Scholz gab es in verschiedenen Funktionen schon einige Begegnungen. Nun standen sie zu dritt im Studio, und es war interessant zu beobachten, wie sie aufeinander reagieren und miteinander interagieren.

Was haben Sie beobachtet?

Kleine Gesichtsausdrücke. Blicke sagen häufig mehr als Worte. Insbesondere wenn es so viele vorab formulierte Textbausteine gibt, wie es in einem Wahlkampf der Fall ist. Hielt zum Beispiel die Kamera auf Armin Laschet, huschte Olaf Scholz manchmal ein Lächeln übers Gesicht. Bei Annalena Baerbock spürte man häufig die Ungeduld, dazwischen gehen zu wollen.

Für Ihr Buch wäre es besser gewesen, die CDU hätte die Wahl gewonnen, dann hätten Sie jetzt den kommenden Kanzler drin.

(lacht) Wir haben uns für das Interview in meinem Buch zu einer Zeit getroffen, als Laschet noch gar nicht der Kandidat war, sondern sich mit Söder noch darum stritt. Die CDU lag in den damaligen Umfragen noch weit vorne, gerade kochte die Maskenaffäre hoch.

Hätten Sie damals einen Pfifferling auf die SPD gesetzt?

Die SPD und damit Olaf Scholz lagen damals bei 14 Prozent. Aber an dieser Entwicklung erkennt man, wie eigenwillig Wahlkämpfe verlaufen, wie unvorhersehbar Politik funktioniert.

„Wir Nachrichtenleute müssen pragmatisch sein: Das ist die News-Lage – und diese bilden wir ab.“

Welche Verpflichtung ergibt sich daraus für den politischen Journalismus?

Immer wieder darauf hinzuweisen, dass Umfragen reine Momentaufnahmen sind. Und dass die Entscheidung am Wahltag fallen wird.

Was hat Laschet im Wahlkampf verkehrt gemacht, dass er es noch versemmelt hat?

Ich glaube, da kamen mehrere Faktoren zusammen. Es war kein einzelner Fehler. Dazu die generell schwierige Situation, wenn es nach 16 Jahren Kanzlerschaft plötzlich gilt, jemand Neuen nach vorne zu stellen. Diese Balance aus Konstanz und Aufbruch ist schwer zu finden, diese Vorgeschichte darf man nicht vergessen.

Wobei Olaf Scholz diese Balance perfekt gefunden hat.

Er hat eher die beiden anderen machen lassen und sich zurückgehalten.

Und sich in der Süddeutschen Zeitung mit der Merkel-Raute gezeigt.

Wenn bei der Konkurrenz persönliche Fehltritte hinzukommen – Dinge, die Laschet und Baerbock selbst wohl am allermeisten ärgern –, dann potenziert sich das. Es entsteht eine ungute Dynamik, die man irgendwann nicht mehr stoppen kann.

Um noch einmal auf Nachrichten, die nerven, zurückzukommen: Wie sehr leiden Sie darunter, immer und immer wieder über Corona berichten zu müssen?

Aktuell gibt es mal wieder täglich neue Höchststände, und natürlich wissen wir, dass viele unserer Zuschauerinnen und Zuschauer mürbe sind angesichts dieser nicht enden wollenden Pandemie. Aber wir müssen die Dinge zeigen und benennen, das ist unser Job.

Zumal der Nachrichtenwert nicht besonders hoch ist, wenn sich Abläufe und Probleme bei jeder Welle wiederholen.

Manchmal beginne ich meine Moderation auch mit dem Satz: „Wir können oder wollen es wohl alle nicht mehr hören – aber wir sind noch mitten in der Pandemie.“ Es ist unsere Aufgabe, das Geschehen abzubilden, auch mit Sondersendungen, die bei RTL sehr erfolgreich laufen. Da müssen wir Nachrichtenleute sehr pragmatisch sein: Das ist die News-Lage – und diese bilden wir ab. Da haben wir keine Wahl. Ich werde häufiger gefragt, welche Nachricht die schönste war, die ich jemals vermelden durfte. Seit knapp zwei Jahren antworte ich, dass diese schönste Nachricht erst noch kommen wird – und zwar hoffentlich bald: „Die Corona-Pandemie ist zu Ende.“

Bevor es so weit ist: Verzweifeln Sie als Mutter daran, wie wenig in der Pandemie an Familien und Kinder gedacht wird?

Es ist gerade für Kinder eine Achterbahnfahrt, weil sie noch viel mehr als Erwachsene von den ständigen Änderungen betroffen sind: Schulen und Kitas zu und wieder auf und wieder zu, Maske auch am Platz, testen mehrmals pro Woche, immer wieder fallen Kurse und Sportangebote aus. Das ist schon herausfordernd und ich hoffe, dass in diesem Winter ein größeres Augenmerk auf die Familien und die Kinder gerichtet wird.

„Meine Meinung zeige ich im beruflichen Kontext nicht. Meine Haltung schon.“

Glauben Sie daran?

Es gibt eine geschäftsführende Regierung, die das Geschäft, nun ja, erledigt, aber dabei wenig führt. Die Ampelkoalition meint, viel vorzuhaben, aber auch hier ist kein klarer Kurs erkennbar angesichts der sich zuspitzenden Lage. Es fühlt sich wie ein Vakuum an, das viele besorgt.

Die Impfquote in Deutschland stagniert auf niedrigem Niveau. Länder wie Portugal oder Spanien sind viel weiter. Was läuft falsch in Deutschland?

Wir hatten bei RTL Aktuell vor Kurzem einen sehr interessanten Beitrag aus Portugal, in dem eine Wirtin zu Wort kam, die sagte: „Wir haben hier bei uns eine Impfquote von fast 100 Prozent, weil wir erleben mussten, wie schrecklich es war, als wir nicht mehr wussten, wohin mit unseren Kranken, und die Särge in Reihe standen.“

Dort ist der Leidensdruck höher.

Fand ich plausibel.

Sind Sie für eine Impfpflicht?

Als Journalistin berichte ich über die wissenschaftlichen Fakten, die belegen, dass Impfen hilft, am Ende kann sich jeder und jede auf Grundlage dieser Informationen ein eigenes Bild machen. Es ist die Aufgabe der Politik, den noch immer Unentschlossenen Anreize zu geben und Ängste zu nehmen.

Es ist aber ja auch klar, dass das Impfen nicht nur mir selbst hilft, sondern auch der Gemeinschaft. Trotzdem pochen einige auf die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen. Können die Deutschen nur schwer mit Freiheit umgehen, weil viele nicht akzeptieren wollen, dass diese Freiheit dort aufhört, wo sie die Freiheit anderer beschneidet? Zum Beispiel die Freiheit der Kinder, über die wir ja schon sprachen?

Ich möchte das Bild nicht zu schwarz malen, wir haben gerade zu Beginn der Pandemie erlebt, dass sehr viele Menschen sehr rücksichtsvoll miteinander umgegangen sind. Ich glaube schon, dass uns Deutschen die Freiheit sehr wichtig ist, was ja positiv ist. Aber natürlich sind in einem demokratischen Land die vielen Individuen voneinander abhängig. Wir müssen in dieser Gesellschaft füreinander agieren, füreinander da sein. Das scheinen manche nicht zu sehen.

Was können Sie als Journalistin tun, um dieses Verständnis zu verstärken?

Fakten, Fakten, Fakten. Abbilden, wie die Lage ist. Ohne darüber zu richten.

Ganz neutral?

Natürlich habe ich als Journalistin eine Haltung. Ich bringe als Mensch meine eigene Geschichte mit, habe meine Erfahrungen gemacht, alles das lässt sich nicht ausblenden. Daraus ergibt sich eine Haltung, die ich auch zeigen möchte. Meine Meinung dagegen zeige ich im beruflichen Kontext nicht. Das könnte ich machen, in Form eines Kommentars oder Meinungsbeitrags. Aber nicht bei RTL Direkt oder RTL Aktuell, das sind Nachrichtensendungen. In einem Interview ist es zwar durchaus meine Aufgabe, die Gegenposition eines Ministers oder einer Ministerin einzunehmen. Aber nicht, weil ich zwingend anderer Meinung wäre, sondern weil ich durch meine Ausbildung als Journalistin weiß, dass diese Position dazu führt, dass das Gespräch einen größeren Mehrwert generiert. Meine Position ist dann also Handwerk, keine Meinung.

Wo genau liegt der Unterschied zwischen Haltung und Meinung?

Nehmen wir das Flüchtlingsthema in Belarus: Ich zeige schon meine Haltung zu den Geschehnissen an der Grenze zu Polen, ich betrachte das, was dort passiert, als humanitär katastrophal – und benenne es auch so. Ich gehe aber nicht so weit, meine Meinung darüber zu kommunizieren, welcher Akteur welche Schuld auf sich geladen hat.

Es gibt einen noch recht frisch gewählten neuen Bundestag, der ein wenig diverser aufgestellt ist als der Bundestag zuvor: etwas mehr Frauen, etwas mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Den tatsächlichen Verhältnissen in der deutschen Gesellschaft wird das Parlament aber weiterhin nicht ansatzweise gerecht. Ist das ein Problem?

Es ist eine alte Diskussion, ob der Bundestag tatsächlich die gesamte Vielfalt der Gesellschaft abbilden muss oder kann. Ob es nötig ist, weil es im Kern darauf ankommt, dass die Mitglieder im Bundestag für alle diese Gruppen sprechen, wie Wolfgang Schäuble es einmal gesagt hat.

Was denken Sie?

Ich würde mir mehr Diversität wünschen. Wobei auch klar ist: Es ist nicht so einfach, eine Parität herzustellen. Politik funktioniert in Netzwerken. Nach oben kommt man über Kontakte und persönliche Förderungen, es ist sinnvoll, sich in bestimmten Kreisen zu bewegen – und diese sind häufig akademisch geprägt. Was, ganz pragmatisch betrachtet, auch daran liegt, dass ein Handwerksmeister selten sagt: „Ich lasse meinen Betrieb alleine und versuche, in einer Partei einen guten Listenplatz zu bekommen.“ Die Parteien stehen also vor der Aufgabe, unterschiedlichen Menschen Mut zu machen und sie zu fördern. Und Platz für sie zu machen, so, wie es in der Union passiert ist, wo Annegret Kramp-Karrenbauer und Peter Altmaier auf ihre Bundestagsmandate verzichtet haben.

In Ihrem Buch „Schwimmen muss man selbst“ schreiben Sie von sich als „Arbeiterkind“. Das ist ein schöner, beinahe nostalgisch gefärbter Begriff, wobei interessant ist: Wenn Sie in Talkshows sitzen, melden sich in den Runden viele andere Gäste, die sagen: „Arbeiterkind? Bin ich auch!“

Es scheint in Deutschland mehr Arbeiterkinder zu geben, die als solche nicht bekannt sind, als man denken würde. Es ist wichtig, darüber zu reden – und damit zu zeigen, dass die Herkunft nicht darüber entscheidet, wohin einen der Weg führt. Die Geschichten von Arbeiterkindern müssen sichtbarer werden! Deshalb habe ich einige von ihnen für mein Buch interviewt, zum Beispiel Elke Büdenbender, als Frau von Frank Walter Steinmeier unsere „First Lady“, die als Kind einer bildungsfernen Familie Juristin geworden ist. In den Lebenswegen von uns Arbeiterkindern ist viel Musik drin, die ich gerne lauter stellen möchte.

Warum ist diese Musik denn eher leise?

Den großen Sound machen Akademikerkarrieren, mit internationalen Praktika, Auslandsaufenthalten. Dem Arbeiterkind hingegen hängt das Stereotyp an, dass es zu Hause weniger Förderung erhält und dass es daher im Zweifel eher auf die Realschule statt aufs Gymnasium gehen sollte und eher nicht studiert. Bei Akademikerkindern ist es nicht selten genau umgekehrt. Diese Stereotype über die Unterschiede sind über viele Jahre gelernt, ich denke, wir sollten sie langsam überwinden.

Was hat Ihre Kindheit als Arbeiterkind ausgezeichnet?

Zunächst war ich mir dessen gar nicht bewusst. Höchstens, wenn ich aus unserem Zimmer im Wohnblock, das ich mir mit meiner Schwester teilte, auf die Einfamilienhäuser auf der anderen Straßenseite schaute und mich fragte, wie es sein kann, dass eine einzige Familie in diesem großen Haus lebt. Gespielt haben wir aber alle gemeinsam, auch waren wir alle auf einer Grundschule, ganz einfach, weil es in meinem Heimatort in Bösingfeld nur diese eine gab. Erst später fiel mir dann auf, dass einige Dinge bei bestimmten Kindern anders liefen. Die waren dann mal eben für ein Wochenende in Paris, mit dem Flugzeug. Oder flogen in den Osterferien nach Schweden. Geflogen bin ich auch, einmal im Jahr, in die Türkei, zu den Familien meiner Eltern. Das war auch schön, aber anders. Hinzu kam, dass ich mir sehr früh Schülerjobs gesucht habe: Nachhilfe, Reitunterricht, Kugelschreiber zusammenschrauben… Das war nicht schlimm, aber ich musste es machen, um mir etwas hinzuzuverdienen. Meine Eltern waren nicht arm, sie waren fleißig und haben für ihre Verhältnisse als Tischler und Schneiderin ganz gut verdient. Aber unsere Mittel waren begrenzt.

Sie schreiben in Ihrem Buch häufig von der „Bildungsferne“, die in einem Arbeiterhaushalt zu erkennen sei. Sie schreiben aber auch, dass Sie nicht nur früher als Ihre Freundinnen eigenes Geld verdient haben, sondern dass Sie zum Beispiel für Ihre Eltern Behördengänge organisiert haben. Haben wir einen falschen Bildungsbegriff, wenn wir in erster Linie an Bücher und Mathe denken – und nicht an Bildungsinhalte, die man dann erwirbt, wenn man arbeitet, hilft, unterstützt?

Das ist ein guter Aspekt, denn die schulische Bildung ist recht einfach zu vermessen: Einer hat einen Hauptschulabschluss, ein anderer hat das Abitur – ist ja klar, wer mehr schulische Bildung abbekommen hat. Neben dieser schulischen Bildung gibt es aber eine Form von Bildung, die man im Alltag und von den Eltern mitbekommt. Hier lernt man die Dinge fürs Leben, die mindestens genauso wichtig sind. Ich bin sehr pragmatisch groß geworden, weshalb ich mich gar nicht darüber beschwere, wie es gelaufen ist. Was mich aber stört, sind die Kategorisierungen, die getroffen werden. Wer sagt denn eigentlich, dass ein Akademikerkind durch seine Möglichkeiten mehr Bildung erfahren hat als ich, die mit zwölf Jahren gelernt hat, wie man Behördenschreiben liest, wie man darauf antwortet und was man tun muss, damit die Fristen eingehalten werden? Um das herauszufinden, habe ich früh gelernt, wie man Informationen einholt, wie man recherchiert, das hat mir für meinen beruflichen Weg geholfen.

„In den Lebenswegen von uns Arbeiterkindern ist viel Musik drin, die ich gerne lauter stellen möchte.“

Sie sind nicht trotz Ihrer Kindheit so weit gekommen…

In meinem Fall war es kein Hindernis, wobei es für viele aber eines sein kann, darum geht es mir. Es sollte anders darauf geblickt werden, was Kinder und Familien leisten, aber auch darauf, welche Probleme sie haben.

Sie haben nach dem Abi nicht studiert. Was waren in dieser Zeit Ihre Bildungshighlights?

Eines habe ich schon in sehr frühen Teenagerzeiten erlebt, da habe ich mir zum ersten Mal „Die Zeit“ gekauft, diese irre dicke Wochenzeitung mit den sehr langen Geschichten. Das hat mich zunächst einmal erschlagen, aber als ich dann den ersten Artikel gelesen und auch verstanden hatte, war ich sehr stolz. Weiter ging es dann mit 19, als ich zum Radio kam. Dort habe ich das Handwerk des Fragens erlernt. Wie ich durch jede Antwort, die ich erhalte, selbst auch schlauer werde. Ich glaube, das ist es, was mich an meinem Job von Anfang an fasziniert hat: dass er mir die Möglichkeit gibt, an jedem Tag etwas Neues zu lernen, durch meine Recherche und durch meine Fragen.

Um den Titel Ihres Buches beim Wort zu nehmen: „Schwimmen muss man selbst“ – wie werden Sie dieses Credo an Ihre Tochter weitergeben?

Wenn ich daran zurückdenke, wie meine Eltern es mir vorgelebt haben, dann gab es das Leitmotiv: „Wir sind für dich da, aber du machst das schon.“ Das möchte ich übernehmen, indem ich bestärke. Da ich aber weiß, dass dieses Bestärken in manchen Familien nicht funktionieren kann, wünsche ich mir, dass auch die Gesellschaft diese Aufgabe der Bestärkung übernimmt. Mit dem Ziel, dass junge Menschen – egal welcher Herkunft – sagen: „Ich wage es, ins kalte Wasser zu springen, ich lasse mich sogar von euch hineinschubsen – mit dem Wissen, dass ihr da seid und mich unterstützt. Und dann schwimme ich selbst.“

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Zur Person

Pinar Atalay (geboren am 27.04.1978 in Lemgo) wuchs im kleinen Ort Bösingfeld im Kreis Lippe auf. Ihre Eltern waren 1972 nach dem Anwerbeabkommen als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen, die Mutter war als Schneiderin tätig, der Vater als Tischler. Obwohl ihre Grundschullehrerin davon abriet, ging Pinar Atalay aufs Gymnasium. Nach dem Abi studierte sie nicht, sondern eröffnete eine Boutique. Als sie mit 19 zum Radio ging, führte ihre Mutter das Geschäft noch zehn Jahre lang weiter. Nach Stationen bei Radio Lippe und Antenne Münster wechselte Atalay als Moderatorin zum WDR Fernsehen. Zu sehen war sie auch bei Phoenix sowie in der ARD beim Wirtschaftsmagazin Plusminus. Ab 2014 zählte sie für sieben Jahre neben Caren Miosga und Ingo Zamperoni zum Team der „Tagesthemen“-Moderatoren. Im August 2021 wechselte sie zu RTL. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

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