Kohei Saito

Kohei Saito

„Der Zustand unserer Umwelt toleriert kein Wachstum mehr.“

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11. Juli 2022, Tokio. Es ist Morgen in Deutschland, Nachmittag in Japan. Kohei Saito kommt aus einer Vorlesung und ist hochkonzentriert. Der Philosoph erinnert sich gern an seinen sechsjährigen Aufenthalt in Berlin. „Damals waren die Mieten noch bezahlbar“, sagt er. Jetzt ist er zurück in Tokio, das er als sein Zuhause bezeichnet, und auch wenn die Japaner „doppelt so viel arbeiten wie die Deutschen“ lächelt Saito zuversichtlich bei dem Gedanken, dass sich das bald ändern könnte und er daran teilhat.

Kohei Saito, wer oder was bestimmt unsere Zukunft: das System, in dem wir leben, oder die Menschen darin?

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, abgekürzt SDG, übertragen die systemische Herausforderung des Umweltschutzes auf Individuen. Es geht darum, was wir einkaufen sollten und wo und wie wir es verpacken. Wir erhalten Tipps zum Einsparen von Wasser und Strom und werden angeregt, ab und zu das Fahrrad zu nehmen. Das ändert aber nicht wirklich etwas. Ich bezeichne die SDG daher gern als Opium für die Massen, eine Art beruhigende Religion, die unser schlechtes Gewissen mildern soll. Die Maschinerie aus Produktion, Konsum und Marketing, die unsere Erde zerstört, lässt sich durch ein bisschen organische Baumwolle und elektrische Autos nicht aufhalten. Das System muss sich grundlegend verändern, einzelne individuelle Lifestyle-Entscheidungen sind nicht ausreichend.

Ich wohne in Berlin-Mitte. Die meisten, die man dort auf der Straße anspricht, würden von sich behaupten, umweltbewusst zu handeln. Wie gelangen wir zu mehr kollektivem Denken?

Wir sollten vor allem vom ichbezogenen Verantwortungsbewusstsein abrücken. Wenn ich mir ein E-Auto kaufe, fühle ich mich gut, weil ich denke, etwas für die Umwelt getan zu haben. Gleichzeitig grenze ich mich gegen jene ab, die das nicht tun und somit vermeintlich schlechter sind als ich. Stattdessen sollten wir auf die lokale Politik zugehen, Umweltschutzorganisationen unterstützen oder Gewerkschaften anregen, nachhaltigeres Geschäftsgebaren in Firmen durchzusetzen, also gemeinsam etwas bewegen. Selbst kleine Initiativen, die sich beispielsweise dafür einzusetzen, dass in der Kantine weniger Fleisch angeboten wird, sind wirkungsvoller als Einzelaktionen, die nur mit mir selbst zu tun haben. Nachhaltigkeit muss multipliziert werden, damit sie spürbar wird. Insgesamt sind wir gut beraten, wenn wir Individualität nicht überbewerten. Absolutismen, dass wir von Natur aus gierig seien und sowieso nichts am Konsum ändern können oder dass sich jeder selbst der Nächste ist, sind durch institutionalisierten Konkurrenzkampf und Werbung hochgezüchtet worden und stehen uns jetzt dort im Weg, wo wir zusammenhalten müssten.

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