
Donna Leon
„Sie können die Leute nicht einfach anschreien, vor allem nicht in einem Buch.“
Zur Person
Donna Leon war bereits fünfzig, als sie mit „Death at La Fenice“ 1992 in ihrem Heimatland debütierte. Die 1942 in New Jersey geborene Autorin betätigte sich nach ihrem Studium als Reiseleiterin in Rom, als Werbetexterin in London und als Lehrerin für englische Sprache und Literatur in der Schweiz, in China, in Saudi-Arabien sowie dem Iran, den sie 1979 aufgrund der Machtübernahme von Ajatollah Ruhollah Chomeini verlassen musste, wobei sie ihre bereits seit Jahren in Arbeit befindliche Dissertation zu Jane Austen verlor… der einzige lose Faden, den sie nie mehr aufgenommen hat. Von 1981 bis 1995 arbeitete sie nordwestlich von Venedig in Vicenza, in der Außenstelle der Universität Maryland auf einem US-Luftwaffenstützpunkt. Ihre Wahlheimat Venedig verließ sie aufgrund des touristischen Aufkommens, ihre Brunetti-Romane wurden in 34 Sprachen übersetzt, außer ins Italienische. Seit 2020 ist sie Schweizer Staatsbürgerin.
11. Juli 2022, Graubünden. Es klingelt lange, bis Donna Leon den Hörer abhebt. Sie war in Gartenarbeit versunken und es braucht seine Zeit, bis sich das Läuten im Haus gegen die Geräusche der Graubündner Natur durchsetzt. Das Festnetztelefon hat keinen Anrufbeantworter und bevor die erfolgreiche Schöpferin des Commissario Guido Brunetti ein Smartphone bei sich tragen würde, schriebe sie wohl eher einen blutigen Thriller. Ihre Freunde üben sich am Telefon in Geduld, denn sie dürfen sicher sein – solange Donna daheim ist, geht sie ran. Genauso sicher können sie sein, dass die weltbekannte Schriftstellerin sie jährlich mit einem neuen Krimi aus Venedig versorgt, einer Literatur wie ihre Gartenarbeit, die tief gräbt und in Abgründe taucht, dabei jedoch meist entschleunigt bleibt und ihre finalen Wege erst beim Machen findet.
Donna Leon, neben einem schlüssigen Ende, das alle Fäden zusammenführt und das Publikum emotional hinterlässt, ist der wichtigste Teil eines Romans sein Anfang. Ihr erstes Buch „Venezianisches Finale“, das eine Weltkarriere begründete, beginnt mit den Worten: „Der dritte Gong tönte diskret durch die Foyers und Bars des Teatro La Fenice und rief zum letzten Akt der Oper.“ Es folgen ein Panorama der Besucher und der Blick auf die Tür, durch die der Dirigent nicht zurückkehrt. Perfekt etablieren Sie die Stimmung eines Ortes und setzen eine offene Frage. Ist die erste Seite bei Ihnen tatsächlich die erste, die Sie schreiben? Oder wirkt sie so vollendet, weil sie sich im Schreibprozess immer wieder verändert?
Das gesamte erste Kapitel eines Buches verändert sich bei mir üblicherweise kaum, vor allem nicht die erste Seite. Ganz selten wechselt beim Schreiben der Ehestand einer Figur oder ihre Beziehung zu einer anderen, sodass ich diese Details noch mal anpassen muss. Meistens bleiben meine Charaktere so, wie sie den Roman das erste Mal betreten haben. Was den Einstieg des ersten Romans betrifft: Ich bin so viele Jahre meines Lebens in die Oper gegangen, dass ich die dortige Stimmung aus dem Effeff wiedergeben konnte. Jeder, der auch nur ein paar Mal dort war, findet sich darin wieder. Das Gläserklimpern im Foyer, die Stimmen, die Person hinter dir, die mit dem Bonbonpapier knistert. Reine Vertrautheit.
Vertrautheit ist ein gutes Stichwort. Ein führender Lektor hier in Deutschland sagte in einem Vortrag, dass erfolgreiche Literatur die Assoziationen bedient, welche sich im Kopf der Menschen auffächern, wenn sie an bestimmte Orte oder Situationen denken.
Die Leser wissen es nicht bewusst, aber durch ihre Vorerfahrungen sind sie längst innerlich darauf geeicht, sich die richtigen Fragen über das zu stellen, was wir ihnen im Fortgang erzählen werden. Wieso passiert das gerade? Was könnte als Nächstes geschehen?