Pinar Atalay

November 2021 / Seite 2 von 2

Ganz neutral?

Natürlich habe ich als Journalistin eine Haltung. Ich bringe als Mensch meine eigene Geschichte mit, habe meine Erfahrungen gemacht, alles das lässt sich nicht ausblenden. Daraus ergibt sich eine Haltung, die ich auch zeigen möchte. Meine Meinung dagegen zeige ich im beruflichen Kontext nicht. Das könnte ich machen, in Form eines Kommentars oder Meinungsbeitrags. Aber nicht bei RTL Direkt oder RTL Aktuell, das sind Nachrichtensendungen. In einem Interview ist es zwar durchaus meine Aufgabe, die Gegenposition eines Ministers oder einer Ministerin einzunehmen. Aber nicht, weil ich zwingend anderer Meinung wäre, sondern weil ich durch meine Ausbildung als Journalistin weiß, dass diese Position dazu führt, dass das Gespräch einen größeren Mehrwert generiert. Meine Position ist dann also Handwerk, keine Meinung.

Wo genau liegt der Unterschied zwischen Haltung und Meinung?

Nehmen wir das Flüchtlingsthema in Belarus: Ich zeige schon meine Haltung zu den Geschehnissen an der Grenze zu Polen, ich betrachte das, was dort passiert, als humanitär katastrophal – und benenne es auch so. Ich gehe aber nicht so weit, meine Meinung darüber zu kommunizieren, welcher Akteur welche Schuld auf sich geladen hat.

Es gibt einen noch recht frisch gewählten neuen Bundestag, der ein wenig diverser aufgestellt ist als der Bundestag zuvor: etwas mehr Frauen, etwas mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Den tatsächlichen Verhältnissen in der deutschen Gesellschaft wird das Parlament aber weiterhin nicht ansatzweise gerecht. Ist das ein Problem?

Es ist eine alte Diskussion, ob der Bundestag tatsächlich die gesamte Vielfalt der Gesellschaft abbilden muss oder kann. Ob es nötig ist, weil es im Kern darauf ankommt, dass die Mitglieder im Bundestag für alle diese Gruppen sprechen, wie Wolfgang Schäuble es einmal gesagt hat.

Was denken Sie?

Ich würde mir mehr Diversität wünschen. Wobei auch klar ist: Es ist nicht so einfach, eine Parität herzustellen. Politik funktioniert in Netzwerken. Nach oben kommt man über Kontakte und persönliche Förderungen, es ist sinnvoll, sich in bestimmten Kreisen zu bewegen – und diese sind häufig akademisch geprägt. Was, ganz pragmatisch betrachtet, auch daran liegt, dass ein Handwerksmeister selten sagt: „Ich lasse meinen Betrieb alleine und versuche, in einer Partei einen guten Listenplatz zu bekommen.“ Die Parteien stehen also vor der Aufgabe, unterschiedlichen Menschen Mut zu machen und sie zu fördern. Und Platz für sie zu machen, so, wie es in der Union passiert ist, wo Annegret Kramp-Karrenbauer und Peter Altmaier auf ihre Bundestagsmandate verzichtet haben.

In Ihrem Buch „Schwimmen muss man selbst“ schreiben Sie von sich als „Arbeiterkind“. Das ist ein schöner, beinahe nostalgisch gefärbter Begriff, wobei interessant ist: Wenn Sie in Talkshows sitzen, melden sich in den Runden viele andere Gäste, die sagen: „Arbeiterkind? Bin ich auch!“

Es scheint in Deutschland mehr Arbeiterkinder zu geben, die als solche nicht bekannt sind, als man denken würde. Es ist wichtig, darüber zu reden – und damit zu zeigen, dass die Herkunft nicht darüber entscheidet, wohin einen der Weg führt. Die Geschichten von Arbeiterkindern müssen sichtbarer werden! Deshalb habe ich einige von ihnen für mein Buch interviewt, zum Beispiel Elke Büdenbender, als Frau von Frank Walter Steinmeier unsere „First Lady“, die als Kind einer bildungsfernen Familie Juristin geworden ist. In den Lebenswegen von uns Arbeiterkindern ist viel Musik drin, die ich gerne lauter stellen möchte.

Warum ist diese Musik denn eher leise?

Den großen Sound machen Akademikerkarrieren, mit internationalen Praktika, Auslandsaufenthalten. Dem Arbeiterkind hingegen hängt das Stereotyp an, dass es zu Hause weniger Förderung erhält und dass es daher im Zweifel eher auf die Realschule statt aufs Gymnasium gehen sollte und eher nicht studiert. Bei Akademikerkindern ist es nicht selten genau umgekehrt. Diese Stereotype über die Unterschiede sind über viele Jahre gelernt, ich denke, wir sollten sie langsam überwinden.

Was hat Ihre Kindheit als Arbeiterkind ausgezeichnet?

Zunächst war ich mir dessen gar nicht bewusst. Höchstens, wenn ich aus unserem Zimmer im Wohnblock, das ich mir mit meiner Schwester teilte, auf die Einfamilienhäuser auf der anderen Straßenseite schaute und mich fragte, wie es sein kann, dass eine einzige Familie in diesem großen Haus lebt. Gespielt haben wir aber alle gemeinsam, auch waren wir alle auf einer Grundschule, ganz einfach, weil es in meinem Heimatort in Bösingfeld nur diese eine gab. Erst später fiel mir dann auf, dass einige Dinge bei bestimmten Kindern anders liefen. Die waren dann mal eben für ein Wochenende in Paris, mit dem Flugzeug. Oder flogen in den Osterferien nach Schweden. Geflogen bin ich auch, einmal im Jahr, in die Türkei, zu den Familien meiner Eltern. Das war auch schön, aber anders. Hinzu kam, dass ich mir sehr früh Schülerjobs gesucht habe: Nachhilfe, Reitunterricht, Kugelschreiber zusammenschrauben… Das war nicht schlimm, aber ich musste es machen, um mir etwas hinzuzuverdienen. Meine Eltern waren nicht arm, sie waren fleißig und haben für ihre Verhältnisse als Tischler und Schneiderin ganz gut verdient. Aber unsere Mittel waren begrenzt.

Sie schreiben in Ihrem Buch häufig von der „Bildungsferne“, die in einem Arbeiterhaushalt zu erkennen sei. Sie schreiben aber auch, dass Sie nicht nur früher als Ihre Freundinnen eigenes Geld verdient haben, sondern dass Sie zum Beispiel für Ihre Eltern Behördengänge organisiert haben. Haben wir einen falschen Bildungsbegriff, wenn wir in erster Linie an Bücher und Mathe denken – und nicht an Bildungsinhalte, die man dann erwirbt, wenn man arbeitet, hilft, unterstützt?

Das ist ein guter Aspekt, denn die schulische Bildung ist recht einfach zu vermessen: Einer hat einen Hauptschulabschluss, ein anderer hat das Abitur – ist ja klar, wer mehr schulische Bildung abbekommen hat. Neben dieser schulischen Bildung gibt es aber eine Form von Bildung, die man im Alltag und von den Eltern mitbekommt. Hier lernt man die Dinge fürs Leben, die mindestens genauso wichtig sind. Ich bin sehr pragmatisch groß geworden, weshalb ich mich gar nicht darüber beschwere, wie es gelaufen ist. Was mich aber stört, sind die Kategorisierungen, die getroffen werden. Wer sagt denn eigentlich, dass ein Akademikerkind durch seine Möglichkeiten mehr Bildung erfahren hat als ich, die mit zwölf Jahren gelernt hat, wie man Behördenschreiben liest, wie man darauf antwortet und was man tun muss, damit die Fristen eingehalten werden? Um das herauszufinden, habe ich früh gelernt, wie man Informationen einholt, wie man recherchiert, das hat mir für meinen beruflichen Weg geholfen.

„In den Lebenswegen von uns Arbeiterkindern ist viel Musik drin, die ich gerne lauter stellen möchte.“

Sie sind nicht trotz Ihrer Kindheit so weit gekommen…

In meinem Fall war es kein Hindernis, wobei es für viele aber eines sein kann, darum geht es mir. Es sollte anders darauf geblickt werden, was Kinder und Familien leisten, aber auch darauf, welche Probleme sie haben.

Sie haben nach dem Abi nicht studiert. Was waren in dieser Zeit Ihre Bildungshighlights?

Eines habe ich schon in sehr frühen Teenagerzeiten erlebt, da habe ich mir zum ersten Mal „Die Zeit“ gekauft, diese irre dicke Wochenzeitung mit den sehr langen Geschichten. Das hat mich zunächst einmal erschlagen, aber als ich dann den ersten Artikel gelesen und auch verstanden hatte, war ich sehr stolz. Weiter ging es dann mit 19, als ich zum Radio kam. Dort habe ich das Handwerk des Fragens erlernt. Wie ich durch jede Antwort, die ich erhalte, selbst auch schlauer werde. Ich glaube, das ist es, was mich an meinem Job von Anfang an fasziniert hat: dass er mir die Möglichkeit gibt, an jedem Tag etwas Neues zu lernen, durch meine Recherche und durch meine Fragen.

Um den Titel Ihres Buches beim Wort zu nehmen: „Schwimmen muss man selbst“ – wie werden Sie dieses Credo an Ihre Tochter weitergeben?

Wenn ich daran zurückdenke, wie meine Eltern es mir vorgelebt haben, dann gab es das Leitmotiv: „Wir sind für dich da, aber du machst das schon.“ Das möchte ich übernehmen, indem ich bestärke. Da ich aber weiß, dass dieses Bestärken in manchen Familien nicht funktionieren kann, wünsche ich mir, dass auch die Gesellschaft diese Aufgabe der Bestärkung übernimmt. Mit dem Ziel, dass junge Menschen – egal welcher Herkunft – sagen: „Ich wage es, ins kalte Wasser zu springen, ich lasse mich sogar von euch hineinschubsen – mit dem Wissen, dass ihr da seid und mich unterstützt. Und dann schwimme ich selbst.“

Zur Person

Pinar Atalay (geboren am 27.04.1978 in Lemgo) wuchs im kleinen Ort Bösingfeld im Kreis Lippe auf. Ihre Eltern waren 1972 nach dem Anwerbeabkommen als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen, die Mutter war als Schneiderin tätig, der Vater als Tischler. Obwohl ihre Grundschullehrerin davon abriet, ging Pinar Atalay aufs Gymnasium. Nach dem Abi studierte sie nicht, sondern eröffnete eine Boutique. Als sie mit 19 zum Radio ging, führte ihre Mutter das Geschäft noch zehn Jahre lang weiter. Nach Stationen bei Radio Lippe und Antenne Münster wechselte Atalay als Moderatorin zum WDR Fernsehen. Zu sehen war sie auch bei Phoenix sowie in der ARD beim Wirtschaftsmagazin Plusminus. Ab 2014 zählte sie für sieben Jahre neben Caren Miosga und Ingo Zamperoni zum Team der „Tagesthemen“-Moderatoren. Im August 2021 wechselte sie zu RTL. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

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