John Niven

John Niven

„Punkrock hat mein Leben gerettet.“

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Zur Person

29. Februar 2024, Buckinghamshire. Die Sonne fällt durch hohe Fenster auf einen Raum voller Bücherregale. Dazwischen sitzt John Niven wie die bärtige Verkörperung eines erfolgreichen Schriftstellers. Doch spätestens wenn er den Mund aufmacht und seinen dicken schottischen Akzent ertönen lässt, weiß man, dass ein Teil von ihm noch in den Arbeitervierteln von North Ayrshire zu Hause ist. Um genau diesen Teil geht es auch in seinem neuen Buch „O Brother“, das sich seinem zu früh verstorbenen Bruder Gary widmet. Der Roman beantwortet viele Fragen zu komplexen Themen wie Herkunft, Heimat und Familie. Weitere haben wir ihm gestellt.

John Niven, hat sich für Sie mit den Jahren eigentlich die Bedeutung des Wortes Punk verändert?

Nein, ich glaube nicht. Für mich hat Punk immer noch mit der Kunst des Außenseiters zu tun, mit einem Ort außerhalb des Mainstreams. Johnny Marr hat vor ein paar Jahren einen Song namens „New Town Velocity“ herausgebracht, in dem es um Kids aus der Arbeiterschicht geht, die raus in die Welt und etwas mit ihrem Leben anfangen wollen. Das ging mir seinerzeit auch so. Ich habe schon mit 15 meine Leute gefunden, mit denen ich nicht nur die Musik für mich entdeckt habe, sondern auch das Kino und die Literatur. Wenn man älter wird, wird einem erst richtig klar, wie lebensbereichernd das ist. Denn es stimmt schon: Kunst nährt die Seele. Und ich glaube, viele Menschen, die in der Mitte ihres Lebens ankommen, haben dieses Gefühl gar nicht kennengelernt. Die Familie und die Arbeit sind genug für sie. Aber wenn man ihnen diese Dinge wegnimmt, wenn die Familie auseinanderbricht oder man den Job verliert, bleibt nichts mehr übrig. Mir ist das nie passiert, denn ich hatte immer Leidenschaften. Und ich glaube, damit war ich besser dran als mein Bruder Gary.

Warum war das bei Ihrem Bruder anders?

Als mein Vater gestorben ist, war ich erst 26, was recht jung ist. So ein Tod kann sich dann anfühlen wie ein Startschuss. Man merkt, dass das Leben kurz ist und man es besser nicht verschwendet. Ich glaube, das hat mir schon früh den Weg gewiesen und mir bedeutet, dass ich etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen muss. Meinen Bruder hat es dagegen auf einen komplizierten und gefährlicheren Weg gebracht. Aus irgendeinem Grund hatte er im Gegensatz zu mir nicht die richtigen Werkzeuge, um sich auszudrücken. Stattdessen ist er voll und ganz in der Rave-Szene aufgegangen und hat von donnerstags bis montags Party gemacht. Mein Vater war Jahrgang 1924 und ein Kriegsveteran, der natürlich überhaupt keine Geduld für diese Kultur hatte. Gary und er stritten andauernd. Als mein Vater starb, hatten mein Bruder und ich noch keine Kinder, also auch noch keine Ahnung von der bedingungslosen Liebe, zu der Eltern fähig sind. Mein Bruder lebte bis zuletzt in dem Bewusstsein, dass mein Vater ihn nicht mochte und ihn für einen Versager hielt. Und ich glaube, das hat zu dem Selbsthass geführt, unter dem er in der zweiten Hälfte seines Lebens gelitten hat.

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