Gratis-Interview  Die gute Sache – DeutschPlus e.V.

Die gute Sache – DeutschPlus e.V.

„Diskriminierung betrifft uns alle.“

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  • Verena Frye
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21. Januar, Berlin. Für Armaghan Naghipour und Chripa Schneller ist es manchmal schwierig zu bestimmen, wann der Feierabend anfängt. Offiziell sind die Geschäftszeiten von „DeutschPlus e.V.“ schon vorüber, als wir sie zum Interview treffen. Doch dann müssen sie gleich wieder tun, was auch sonst schon zu ihrer Arbeit gehört: benennen, aufklären, informieren. Über Dinge, die allgegenwärtig sind und doch nur eine vermeintliche Minderheit betreffen. Es geht um Diskriminierung, Rassismus und darum, dass es bei diesen Themen keine unbeteiligte Zuschauerrolle gibt.

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Frau Naghipour, Frau Schneller – bitte erklären Sie doch kurz, welchen Auftrag sich die Initiative DeutschPlus gegeben hat.

Armaghan Naghipour: DeutschPlus wurde 2011 als Verein für eine plurale Republik gegründet, und zwar als Antwort auf Thilo Sarrazins These, dass Deutschland sich aufgrund von zu viel Migration abschaffen würde. Gegründet wurde er von Akteuren und Akteurinnen aus der deutschen Einwanderungsgesellschaft, die damit zweierlei deutlich machen wollten. Erstens: Menschen wie Herr Sarrazin bestimmen nicht, wer deutsch ist und wer nicht. Und zweitens: Wenn wir über Themen wie Identität und Zugehörigkeit reden, dann wollen wir Menschen mit Migrationsgeschichte, die wir häufig ja hier geboren und aufgewachsen sind und teilweise in dritter Generation in Deutschland leben, natürlich mitreden.

Chripa Schneller: Ich würde ergänzen, dass es uns um Deutungshoheit geht. Es geht darum, kenntlich zu machen, dass Identität nicht durch eine einzelne, externe Perspektive bestimmt werden kann. Und das nicht nur in Bezug auf die nationale Zugehörigkeit: DeutschPlus heißt auch, dass unsere Identitäten mehrdimensional sind und dass im Grunde jede und jeder selbst bestimmen können sollte, was seine oder ihre Identität ist. Gleichzeitig sollte dadurch keine Benachteiligung entstehen.

Finden Sie es ironisch, dass ausgerechnet die Diskriminierten den Diskriminierenden erklären müssen, was Diskriminierung überhaupt ist?

Schneller: Wenn man auf das Thema Rassismus und Diskriminierung zu sprechen kommt, sollte man darauf achten, wer über wen spricht: Wer wird diskriminiert, wer spricht wie über Diskriminierung? Genau auf diese Prozesse möchten wir aufmerksam machen. Wir wollen aufzeigen, dass die Art, über von Diskriminierung Betroffene zu sprechen, Teil des Problems ist. Wir wollen vermitteln, dass die Menschen, die Diskriminierungserfahrungen machen, nicht die alleinige Verantwortung tragen, damit umgehen zu müssen. Wir müssen uns Rassismus als einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung stellen und reflektieren: Wer spricht also mit wem über wen? Diskriminierung betrifft uns alle und nicht nur die Menschen, die Erfahrungen damit machen.

Wie kommt es, dass Deutschland sich so schwer damit tut, dieser Realität ins Auge zu sehen?

Naghipour: Das ist besonders vor dem Hintergrund, dass laut Statistischem Bundesamt inzwischen 24 Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in diesem Land leben, eine gute Frage. Das sind Millionen von Menschen, fast ein Viertel unserer Gesellschaft, die in den entscheidenden Positionen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien so gut wie gar nicht vertreten sind. Warum werden diese Personen, die de facto Teil der Gesellschaft sind, nicht miteinbezogen? Und warum werden ihnen systematisch Positionen verwehrt, in denen sie mitentscheiden könnten, wohin sich unser Land entwickelt?

Schneller: Es hat auch damit zu tun, dass Deutschland sich erst seit Ende der 90er-Jahre politisch als Einwanderungsland versteht. Der sogenannte Migrationshintergrund, den es erst seit 2005 in der Bundesstatistik gibt, ist ein Ausdruck dieser neuen Perspektive. Der Begriff ist sprachlich jedoch problematisch, da er eine Gruppe von ‚Anderen’ erst konstruiert und mit zumeist negativen Attributen versieht. Sprache ist immer Macht. Deswegen geht es uns auch darum, sichtbar zu machen, dass Menschen mit Begrifflichkeiten und Kategorien strukturell, aber auch rechtlich benachteiligt werden können. Wir wollen deswegen auch auf die Strukturen und Prozesse aufmerksam machen, die Diskriminierung ermöglichen.

„Diskriminierung hat immer einen Gegenpol: das Privileg, nicht diskriminiert zu werden.“

Was heißt das konkret?

Schneller: Gruppen, die beispielsweise bei der Wohnungs- oder der Jobsuche benachteiligt werden, sind von einem strukturellen Problem betroffen, das ihnen gerne selbst überlassen wird. Wir möchten kenntlich machen, was die Rolle von Personen ist, die nicht diskriminiert werden. Das Problem hat in Wirklichkeit nämlich auch mit denen zu tun, die davon profitieren, nicht diskriminiert zu werden. Diskriminierung hat immer einen Gegenpol: das Privileg, nicht diskriminiert zu werden. Einerseits arbeiten wir deshalb mit Personen, die Diskriminierungserfahrungen machen, um sie zu stärken. Unser Ansatz in der Beratung von Institutionen etwa geht aber genauso in die andere Richtung: diejenigen zu sensibilisieren, die nicht von Diskriminierung betroffen sind. Das sind die Menschen, die sich gar nicht bewusst darüber sind, dass sie durch das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der eigenen Privilegien dazu beitragen, dass andere Rassismuserfahrungen machen.

Existiert dabei eine typisch deutsche Ausprägung?

Naghipour: Ich kann aus persönlicher Erfahrung nur berichten, dass ich in London oder in den USA auch bei längeren Aufenthalten noch nie gefragt worden bin, wo ich „eigentlich herkomme“ oder wo mein Name herkommt. In Deutschland passiert mir das interessanterweise tagtäglich. Schneller: Die Forschung über Rassismus ist in Deutschland auch um einige Jahrzehnte jünger als in den USA. Das hängt damit zusammen, dass es in Deutschland nach dem Holocaust nicht nur ein gewisses Tabu gab, sich offen rassistisch zu äußern, sondern auch ein Tabu, Rassismus in kritischer Absicht zu thematisieren, obwohl das rassistische Denken 1945 natürlich nicht plötzlich über Nacht verschwand. Letztlich reden wir im globalen Maßstab aber über verschiedene Ausprägungen des gleichen Phänomens und dabei geht es immer um Machtverhältnisse. Das haben alle Länder, in denen Rassismus präsent ist – also tatsächlich alle Länder – gemeinsam. Das wiederum hat auch mit der Geschichte des Kolonialismus zu tun. Es ist kein Zufall, dass gewisse Länder reicher sind als andere und dass gewisse Migrationsströme in gewisse Richtungen verlaufen. Es wäre fatal, das alles auszublenden und zu denken, der Status Quo wäre schon immer so gewesen.

Ist Deutschland beim Thema Integration denn grundsätzlich auf einem richtigen Weg?

Naghipour: Juristisch ist es sehr auffällig, dass der Begriff Integration im Aufenthaltsgesetz oft verwendet, aber nie richtig erklärt wird. Es heißt immer, dass „bei gelungener Integration“ – und das funktioniert ja meistens nach dem Prinzip des Forderns und Förderns – irgendwann dieses und jenes passiert. Was jedoch konkret unter Integration verstanden wird, findet sich nicht in den Gesetzen. Das ist ein interessantes Phänomen: Es wird ein Begriff verwendet, bei dem viele zu wissen glauben, was darunter verstanden werden kann, ohne konkret werden zu müssen. Gleichzeitig sind mit nicht erfolgter Integration, gerade im Bereich des Aufenthalts- und Asylsrechts, Sanktionen verbunden. Im Sinne des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots ist das fatal, denn wenn man rechtliche Begriffe verwendet, muss man sie schließlich auch definieren. Hier geht der Begriff dagegen ins Leere. Und so, wie er etwa vom Heimatminister und anderen politisch angewandt wird, ist er hochproblematisch. Es gibt deshalb auch in der Migrationsforschung eine grundlegende Kritik am Integrationsbegriff und eine Hinwendung zu alternativen Konzepten wie beispielsweise der Inklusion, einem Begriff, der schon lange im Umgang mit Menschen mit Behinderung verwendet wird. In diesem Bereich ist das Vokabular viel mehr auf Augenhöhe als im Bereich Migration.

Wie möchten Sie Integration stattdessen verstanden wissen?

Schneller: Vor allem eben gerade nicht als Auftrag an einzelne Gruppen in der Gesellschaft, so wie er politisch und medial in der Regel gebraucht wird. Wir verstehen Integration stattdessen als gesamtgesellschaftliches Projekt, das heißt, sie betrifft nicht nur Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte, sondern alle. Das bedeutet auch, dass jede und jeder Einzelne dazu beitragen sollte, dass alle Mitglieder der Gesellschaft in allen zentralen gesellschaftlichen Bereichen – politisch, ökonomisch, sozial etc. – in gleichem Maße teilhaben können und repräsentiert sind. Wo das von selbst nicht der Fall ist, ist es nicht allein Aufgabe der benachteiligten Gruppen, etwas zu tun, sondern gesamtgesellschaftliche und politische Aufgabe, Strukturen, die einschränken, abzubauen. Wenn 24 Prozent der Menschen in Deutschland eine Migrationgeschichte haben, sollte sich das in allen Bereichen widerspiegeln.

Wie erklärt sich die Zurückhaltung der übrigen 76 Prozent, wenn es darum geht, bei der Umsetzung zu helfen? Ist es die Angst vor Machtverlust? Unkenntnis der Thematik? Mangelnde Neugierde?

Schneller: Ich würde sagen, dass Angst sicher eine Rolle spielt. Das Grundlegende aber ist, dass es kein Bewusstsein dafür gibt, dass man auch durch Nicht-Handeln Strukturen verfestigt. Beispielsweise indem man sich zurücklehnt und sagt: „Ich bin nicht rassistisch, also habe ich auch nicht zum Rassismus beigetragen.“ Aber wenn man nichts tut, besteht auch nicht die Möglichkeit, Barrieren abzubauen.

Wenn man auf Pegida, AfD und Co blickt, kann man den Eindruck bekommen, dass Teile der Bevölkerung gerade lieber aktiv daran arbeiten, solche Barrieren aufzubauen. Wie kann man diesem Rassismus beikommen?

Naghipour: Ich glaube zunächst nicht, dass die Leute mit rechtsextremen Einstellungen viel mehr geworden sind als etwa in den Neunzigern. Ich denke aber, dass wir in Zeiten leben, die eine verstärkte Arbeit und neue positive Narrative einer pluralen Einwanderungsgesellschaft gerade von den Volksparteien erfordern. Und das ist ihnen bisher nicht gelungen, diese Themen der letzten Jahre, die auch viel mit Migration zu tun haben, in einem gestalterischen Sinne und nach vorne schauend zu verarbeiten. Seit Merkels „Wir schaffen das“ ist nicht viel passiert, was die Menschen an die Hand genommen und was über die ja nach wie vor vorhandene Willkommenskultur hinaus konstruktiv die nächsten Schritte klargemacht hätte. Man hat gemerkt, dass Deutschland nicht auf die Fluchtmigration vorbereitet war, und die Volksparteien waren es auch nicht. Diejenigen, die daraus Kapital geschlagen haben, waren eben die rechtspopulistischen Strömungen, die ihre Agenda nicht groß ändern mussten.

Schneller: Die Frage macht allerdings schon ein bestimmtes Verständnis von Rassismus deutlich. Denn Rassismus existiert natürlich auch jenseits von Rechtsextremismus und rechtspopulistischen Parteien. Deren Rassismus kann man sicher nicht leugnen, doch Rassismus insgesamt spielt sich eben nicht nur am rechten Rand oder bei psychisch auffälligen Menschen ab, sondern ist ein essenzieller Teil auch der Mitte unserer Gesellschaft. Bei Deutschplus liegt unser Fokus deshalb weniger auf Deradikalisierungsstrategien – auch wenn das ebenfalls wichtige Arbeit ist – sondern wir versuchen, aktiv Bündnisse und Allianzen mit anderen Gruppen zu schmieden. Wir waren deshalb zum Beispiel sehr aktiv im #unteilbar-Bündnis und arbeiten eng mit jungen Aktivistinnen und Aktivisten aus der #MeTwo-Kampagne zusammen – das sind unsere Verbündeten und zwar aufgrund einer geteilten Haltung zu Pluralität. Es gibt also auch ein großes Potenzial, aktiv zu werden gegen Rassismus und Diskriminierung. Und dabei reden wir übrigens nicht nur von Diskriminierung aufgrund von Migrationsgeschichte, sondern auch von Sexismus oder Diskriminierung aufgrund von sozialer Klasse, sexueller Orientierung oder Behinderung. Die Kämpfe dagegen müssen wir verbinden. Wir möchten so auf eine Gesellschaft hinarbeiten, in der Diskriminierung insgesamt irgendwann kein Thema mehr ist.

„Wenn 24 Prozent der Menschen in Deutschland eine Migrationsgeschichte haben, sollte sich das in allen Bereichen widerspiegeln.“

Was unternimmt DeutschPlus konkret zu diesem Zweck?

Schneller: Zunächst einmal möchten wir ein Bewusstsein für die Strukturen schaffen, die es ermöglichen, dass beispielsweise die Führungsetagen immer noch größtenteils von Männern besetzt sind. Wir arbeiten dazu einerseits in Projekten mit Menschen zusammen, die von Diskriminierung betroffen sind, etwa mit migrantischen Jugendlichen, andererseits beraten wir mit unserem Projekt ACT und dem sogenannten Vielfaltscheck Organisationen, die sich interkulturell öffnen möchten. Interkulturelle Öffnung heißt dabei nicht, dass ich Menschen unterschiedlicher Hautfarbe auf mein Werbebanner setze. Es hat stattdessen mit Organisationsstrukturen zu tun, die einem aufgeklärten Verständnis von Diversität Folge leisten und die eben angesprochenen Barrieren abbauen möchten. Was heißt es denn, wenn ich meine Organisation öffnen und tatsächlich Teilhabe fördern möchte? Was muss ich machen, wenn ich die plurale Gesellschaft in meiner Organisation abbilden möchte?

Das heißt, Sie informieren und beraten Organisationen, die den Schritt zum Bewusstsein gemacht haben, im Hinblick auf die nächsten Schritte?

Schneller: Ja. Wenn eine Organisation oder Institution tatsächlich etwas tun und weniger diskriminieren möchte, haben wir Angebote im Haus, über die man sich informieren kann. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist dabei, dass wir immer wieder in den Diskurs darüber kommen, was Diskriminierung heißt. Diskriminiere ich tatsächlich auch? Es geht dabei selten um absichtsvoll diskriminierendes Verhalten und fast immer um Strukturen mit diskriminierenden Effekten. Aber man kann eben auch dagegen etwas tun.

Naghipour: Neben der Organisationsberatung veröffentlichen wir regelmäßig Policy Papers und Impulspapiere und haben – als Gegenbegriff zur so genannten Leitkultur – ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft entwickelt. Darin haben wir juristische Herangehensweisen eingeführt, die wir auch auf dem Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin präsentiert haben, gemeinsam mit 49 anderen Migrationsorganisationen. Die Forderungen darin sind sehr konkret und wir haben rechtliche Argumente und Vorschläge zur Gesetzesänderung gemacht, die wir den Verantwortlichen quasi auf dem Silbertablett servieren. Daneben ermächtigen wir im Rahmen unserer Projekte auch migrantische Organisationen selbst. Wir befähigen sie, sich in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext behaupten zu können, unterstützen sie in ihrer Selbstorganisation und Professionalisierung und leisten Rechtshilfe. Im Moment betreuen wir in unserem Projekt Stimmen für Vielfalt zwölf Organisationen ganz konkret in Workshops, damit sie für die von ihnen vertretenen Gruppen ein Sprachrohr sein können. Wir beraten also nicht nur große Organisationen wie Verwaltungen oder die Diakonie, sondern auch kleinere, selbstorganisierte Gruppen.

Ihr Vorsitzender Farhad Dilmaghani spricht in Interviews von einer Einwanderungsverfassung und einem Integrationsvertrag. Was bedeutet das?

Naghipour: Mit dem Stichwort Einwanderungsverfassung ist unsere Forderung angesprochen, Vielfalt als neues Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. Das Grundgesetz ist so aufgebaut, dass es sowohl bestimmte Staatsstrukturprinzipien gibt als auch Staatsziele wie das Sozialstaatsprinzip, die die Grundlage des staatlichen Handelns darstellen. Es gibt aber auch Ziele, die erst nach 1949 eingeführt worden sind wie beispielsweise der Umwelt- oder Tierschutz. Das bedeutet, ein Staatsziel wird immer dann eingeführt, wenn es eine gesamtgesellschaftliche Veränderung gibt, die bestimmte Regelungen oder auch die Einführung von bestimmten Institutionen wie einem Ministerium erforderlich macht. Ich habe deshalb das Beispiel Umweltschutz genommen, weil es in den Achtzigern ja wirklich so war, dass das zunehmende Umweltbewusstsein die Einführung eines neuen Staatsziels und daraufhin die Schaffung des Umweltministeriums bewirkt hat. Der Unterschied zwischen einem Ministerium und der Bundesbeauftragten für Integration besteht darin, dass ein Ministerium eigenständig ganz konkrete Gesetzesvorschläge einbringen kann. Die Beauftragte kann das nicht. Sie kann natürlich alles kommentieren und Vorschläge machen und sie macht auch eine sehr wichtige Arbeit, hat dabei aber letztlich mehr eine repräsentative Funktion und nicht die politischen Mittel eines Ministeriums. Einen „Integrationsvertrag für alle“ haben wir 2016 in einem offenen Brief an die Bundesregierung als Alternative zum damals eingeführten, extrem restriktiven Integrationsgesetz gefordert. Statt auf Misstrauen gegenüber Migranten sollte ein solcher Integrationsvertrag auf einem positiven Bekenntnis zur längst alltäglich gelebten Vielfalt fußen. Wir haben neben dem Staatsziel in der Verfassung auch immer wieder gefordert, dass ein neues, modernes Einwanderungsgesetz geschaffen wird, in dem ganz konkret Rechte und Pflichten, aber auch die Möglichkeiten der Einwanderung geregelt sind. Und dass nicht wie derzeit immer noch im Migrationsrecht eher ein Flickenteppich aus lauter Gesetzen besteht, die dauernd erneuert und ergänzt werden, bis alle komplett den Überblick verlieren. Als Anwältin im Migrationsrecht weiß ich aus erster Hand, dass es unglaublich schwer ist, da überall hinterherzulaufen. Wir brauchen stattdessen eine Grundlage, die klar und deutlich ist. Und zwar in einem menschenrechtlich vertretbaren Sinne.

„Förderangebote und Ähnliches sind immer dann richtig konzipiert, wenn sie sich letzten Endes selbst überflüssig machen.“

Sie beziehen sich in Ihrer Arbeit unter anderem auch auf die Frauenbewegung und die politischen Erfolge, die dort erzielt worden sind. Zu den Methoden gehört auch die Frauenquote. Schwebt Ihnen im Kampf gegen Diskriminierung Ähnliches vor?

Schneller: Auch darüber sprechen wir, ja. Aus methodologischer Sicht würde ich immer fragen: Setzt eine Quote an einem Problem an oder nicht? Eigentlich tut sie es ja nicht, denn das Problem liegt ursächlich viel früher. Trotzdem würde ich sagen, dass eine Quote Sinn machen kann, um etwas an der mangelnden Repräsentanz von Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu ändern. Sie müsste aber letzten Endes so konzipiert sein, dass sie auch wirksam die Ursachen angeht. Zur Kenntlichmachung von Handlungsbedarf halte ich Quoten für sinnvoll, denn ohne Zutun wird sich anscheinend nichts verändern – genau wie wir es bei der Frauenquote gesehen haben. Förderangebote und Ähnliches sind immer dann richtig konzipiert, wenn sie sich letzten Endes selbst überflüssig machen.

Nach dieser Logik ist das im Idealfall ja auch bei Ihrer Initiative der Fall.

Schneller: Ja, das kann man so sehen. Man sollte immer mit einem Ideal arbeiten, und unser Organisationsziel muss es demnach sein, dass es uns irgendwann nicht mehr gibt. Wenn wir uns selbst überflüssig gemacht haben, würde das bedeuten, dass wir gut gearbeitet haben. Und genauso sehe ich auch unsere Aufgabe hier. Selbst wenn ich das zu meinen Lebzeiten wohl nicht mehr erlebe.

Stimmt die Auseinandersetzung mit diesem Thema Sie auf lange Sicht trotzdem optimistischer?

Schneller: Hier kann ich nur biografisch antworten. Ich hätte vor 20 Jahren nicht gedacht, dass ich hier sitze und ein Interview zum Thema Diskriminierung gebe. Ich finde, es tut sich gesamtgesellschaftlich und diskursiv sehr viel. Auch wenn meine Biografie kein statistischer Wert ist, finde ich, dass wir heute offener über Dinge sprechen können. Es wäre vor 20 Jahren nicht so einfach gewesen, über Rassismus zu reden und dabei eine einheitliche Sprache zu finden. Ich hätte beispielsweise damals auch nicht von mir gesagt, dass ich Rassismuserfahrungen mache, weil ich das so gar nicht artikulieren konnte. Mit meinem heutigen Verständnis erkenne ich, dass jede und jeder in Deutschland, der/die anders aussieht, anders markiert ist oder andere Familienbiografien hat, Rassismuserfahrungen macht. Aber ich sehe auch, dass wir uns weiterentwickeln. Allein dass es unsere Initiative und viele weitere gibt, halte ich für ein wunderbares Zeichen. Ich sehe sie als Gelegenheit, mehr Leute mit an Bord zu holen und an unseren Ideen zu einer – wie wir es nennen – pluralen Republik mitzuarbeiten. Und ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit in diesem Land ein friedliches und partizipatives Miteinander möchte.

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Zur Person

Armaghan Naghipour hat Rechtswissenschaften in Heidelberg, Bangalore und Köln studiert und eine Fremdsprachenausbildung im Französischen Recht an der Universität Heidelberg absolviert. Danach arbeitete sie in der Öffentlichkeitsabteilung des Deutschen Bundestages, schrieb für das Missy Magazine und bot Rechtsberatung für Geflüchtete bei Amnesty International an. Nachdem sie 2016 ihr Rechtsreferendariat am Kammergericht Berlin mit Stationen u.a. beim Auswärtigen Amt und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York beendet hatte, spezialisierte sie sich als Rechtsanwältin auf das Migrationsrecht und gründete die Regionalgruppe Berlin von Anwältinnen Ohne Grenzen e.V.

Chripa Schneller ist Geschäftsführerin bei DeutschPlus. Seit 2006 ist sie in den Bereichen Internationalisierung und Migration tätig, mit einem Schwerpunkt in (Hochschul-)Bildung. Sie begann ihre berufliche Laufbahn als Policy Officer bei der Academic Corporation Association (ACA) in Brüssel, wo sie einige internationale und EU-Projekte leitete. Nach einer Zeit bei der Asia-Europe Foundation (ASEF) in Singapur, die sie zu Fragen der europäisch-asiatischen Hochschulzusammenarbeit beriet, war sie zuletzt beim UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL) zuständig für Kooperationen mit Universitäten und Projekte für Lebenslanges Lernen und Hochschulen. Aktuell schließt sie ihre Dissertation an der Universität Bremen ab. Darin untersucht sie, was die Ansprache als „Studierende mit Migrationshintergrund“ aus Sicht der damit adressierten Personen bedeutet.

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