
Christoph Schlingensief
„Diese Krankheit wird sich noch wundern, wen sie sich da ausgesucht hat.“
Zur Person
Christoph Maria Schlingensief, geboren am 24. Oktober 1960 in Oberhausen als Sohn eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester, studierte ab 1981 Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in München, bevor er als Assistent von Werner Nekes seine ersten Kurzfilme produzierte. Von Beginn an polarisierten seine Arbeiten, die fast immer auch die eigene Position als Künstler reflektierten. Vom Ruf als Selbstdarsteller und Provokateur emanzipierte sich Schlingensief spätestens 2004, als er in Bayreuth Wagners „Parsifal“ inszenierte und von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Anfang 2008 wurde bei dem Nichtraucher Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert und der linke Lungenflügel entfernt. Diese Zeit verarbeitete er in dem „Tagebuch einer Krankheit“ sowie in den Theaterstücken „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ sowie „Mea Culpa“. Im April 2009 wurde Schlingensief als Professor für „Kunst und Aktion“ an die Hochschule Braunschweig berufen. Am 21.08.2010 verstarb Schlingensief an den Folgen seines Krebsleidens.
23.04.2009, Berlin. Der Künstler empfängt in seiner hellen Wohnung am Prenzlauer Berg, verabschiedet gutgelaunt seine Verlobte, die Kostümbildnerin Aino Laberenz, und schenkt Apfelschorle ein. Christoph Schlingensief eilt der Ruf voraus, ein ausnehmend charmanter und kluger Gesprächspartner zu sein, was sich während der nächsten Stunde bewahrheitet. Schon seine vormalige Büroleiterin hatte im Vorfeld des Gesprächs am Telefon gesagt: „Den Christoph darf man eigentlich alles fragen.“
Herr Schlingensief, wann haben Sie zuletzt einen Moment von Ratlosigkeit erlebt?
Christoph Schlingensief: Den erlebe ich in einem Rhythmus von sechs bis zehn Tagen. Da bricht bei mir ein Zustand ein, den ich nicht regulieren kann. Da bin ich ratlos, meine Freundin ist ratlos, wir sind beide ratlos. Das ist eine Art Depression, anders als früher, wo ich vielleicht mal melancholisch war.
Was genau ist anders?
Ich sehe, dass es keine Chancen mehr gibt, keine Zukunft – das sind noch nicht mal mehr formulierbare Sätze. Klar nehme ich seit der Diagnose der Krankheit so komische Aufheller, ich weiß nicht, wie ich wäre, wenn ich die nicht hätte. Aber wenn ich ratlos bin, dann heule ich. Ich schreie dann. Das ist keine Art von Ratlosigkeit, weil das Auto nicht läuft oder weil ich nicht weiß, wie es mit der Finanzkrise weitergehen soll. Stattdessen: Alle Türen sind zu. Das war zuletzt Montag vergangener Woche so.