Gratis-Interview André Wiersig

André Wiersig

„Viele von uns haben das Bewusstsein für den Moment verloren.“

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20. Februar 2020, Paderborn. André Wiersig, 47 Jahre alter Vertriebsmitarbeiter in der IT-Branche, hat das vollbracht, was vor ihm noch kein Mensch geschafft hatte: Er schwamm durch die sieben schwierigsten Meerengen der Welt – direkt beim ersten Versuch. 286,7 Kilometer legte er dafür im Ozean zurück, verbrachte 75 Stunden und 28 Minuten im Wasser. Der Rekordschwimmer spricht am Telefon ruhig und nüchtern von den körperlichen Strapazen, die er durchlebte. Beinahe unterkühlt, als wäre dieses Abenteuer nur ein langer Spaziergang gewesen. Erst als es um die bedeutsamen und schönen Momente geht, macht sich positive Erregung in seiner Stimme bemerkbar.

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Herr Wiersig, wann haben Sie zuletzt warm geduscht?

(lacht) Heute morgen.

Wie war's?

Großartig. Die meisten Leute sehen das als Selbstverständlichkeit an. Für mich ist es ein Luxus. Ich habe zur Vorbereitung auf mein Projekt viele Jahre lang nur kalt geduscht. Und zwar ohne auch nur eine einzige Ausnahme.

Gewöhnt man sich irgendwann an das kalte Wasser?

Nein, nie. Komischerweise empfand ich die erste warme Dusche nach dieser Zeit jedoch als überhaupt nicht angenehm, denn ich war nach der Durchquerung des Nordkanals zwischen Irland und Schottland noch so von Quallen zerstochen, dass es höllisch wehtat. Also drehte ich das warme Wasser ganz schnell wieder ab.

Können Sie sich noch an den Morgen des 2. September 2014 erinnern?

Klar. Ich stand an der Küste von Dover und lief um kurz vor fünf Uhr in den Ärmelkanal. Ich hatte mir diese Situation unzählige Male vorgestellt. Doch wenn es letztlich so weit ist, erlebst du das alles noch mal viel intensiver.

Das Schwimmen durch den Ärmelkanal war der Auftakt des riesigen Abenteuers „Ocean’s Seven“. Worum handelt es sich dabei?

Die „Ocean’s Seven“ sind die sieben am schwierigsten zu durchschwimmenden Meerengen der Welt. Die Liste ist angelehnt an die „Seven Summits“, also die jeweils höchsten Berggipfel der Kontinente. Wobei sich die „Ocean’s Seven“ nur auf fünf Kontinenten befinden. Was macht die Durchquerung dieser sieben Meerengen so schwierig? Vor allem die Bedingungen. Du bist stundenlang in eiskaltem Wasser im offenen Ozean unterwegs. In der Cook-Straße in Neuseeland hat das Wasser 13 Grad. Da würden die meisten Menschen nicht mal für 10.000 Euro reingehen. Auch der Ärmelkanal ist mit ein paar Grad mehr kein Zuckerschlecken, du kämpfst gegen Strömungen und Wellen, schwimmst ohne schützenden Haikäfig und darfst dich auf der gesamten Strecke nirgendwo festhalten. Oft startest du an extrem abgelegenen Orten. Du kannst auch nicht immer atmen, wenn du willst, weil häufig riesige Wellen über dich hereinbrechen.

Die Durchquerung des Ärmelkanals gelang Ihnen direkt im ersten Anlauf. War Ihnen danach sofort klar, dass Sie auch die „Ocean’s Seven“ angehen wollen?

Nein. Den Ärmelkanal alleine zu durchschwimmen – dieses Vorhaben wird von einem riesigen Mythos umgeben, für mich fühlte sich das wie der Zenit an. Bis heute erreichen mehr Leute den Gipfel des Mount Everest, als Menschen den Ärmelkanal durchschwimmen. Wenn in England jemand herausfindet, dass du ein sogenannter Channel Swimmer bist, bekommst du in jedem Pub erst mal eine Runde ausgegeben. (lacht) Die „Ocean’s Seven“ kannte ich zudem noch gar nicht. Erst als mir ein Arbeitskollege das Interview mit Steven Redmond zeigte, der 2012 als erster Mensch die „Ocean’s Seven“ gemeistert hatte, erfuhr ich davon – und war sofort von der Idee fasziniert.

Wie bereitet man sich auf ein solches Projekt vor?

Mit viel Verzicht auf Freizeit und Familienleben, mit Durchhaltevermögen, den richtigen Leuten um sich herum und der Bereitschaft, seine Komfortzonen immer und immer wieder zu verlassen.

Macht das Spaß, oder ist das pure Anstrengung?

Ich schwimme für mein Leben gern, liebe das Meer mit all seinen Facetten und fand das deswegen super. Vermutlich auch, weil ich vollkommen erwartungsfrei in dieses Projekt gegangen bin. Der Ozean konnte mit mir tun und lassen, was er wollte. Und das hat er meistens auch gemacht.

Was macht der Ozean denn?

Er nimmt mich auf. Es dauert zwar immer eine Zeit, bis das geschieht, aber ich bin jemand, der komplett mit dem Element Wasser verschmelzen kann. Ansonsten hätte ich in Neuseeland niemals durch die Cook-Straße schwimmen können, denn die Bedingungen waren schlecht. Ich habe mich aber so auf den Ozean eingelassen, dass es mir gelang, oben zu bleiben und nicht unterzugehen.

Sie kämpften dort mit meterhohen Wellen, das Beiboot, das Sie begleitete, wäre beinahe gekentert.

Der Kapitän wollte gar nicht erst starten und später mehrfach abbrechen. Diese Episode der „Ocean’s Seven“ führte schließlich dazu, dass Jürgen Peters, mein Schwager und wichtigster Begleiter bei diesem Projekt, und ich einen beinahe mystischen Ruf als „die Deutschen“ bekamen. Die meisten wären nämlich unter diesen Bedingungen niemals angetreten, geschweige denn angekommen. Wir haben erlebt, wie Skipper der Beiboote anderen „Ocean’s-Seven“-Aspiranten später sagten: „Bei diesem Wetter fahre ich keinesfalls raus. Es gibt nur einen Menschen, der unter diesen Bedingungen angetreten und auch angekommen ist. Und das ist ‚der Deutsche‘. Du musst jetzt wieder nach Hause, sorry.“ (lacht) Aber Spaß beiseite, natürlich hätten wir nichts dagegen gehabt, wenn es auch mal einfacher gewesen wäre.

Wie wichtig war es, sich diesen Naturgewalten von Beginn an unterzuordnen?

Extrem wichtig. Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist das im Umgang mit Menschen genauso wichtig. Deinen Partner, Chef oder Kunden kannst du ja auch nicht kontrollieren. Auch da ist es am besten, alles zuzulassen und sich von den Erwartungen loszusagen, die wir an unser Umfeld und bestimmte Situationen haben.

Der Brite Matthew Webb war 1875 der erste Mensch, der den Ärmelkanal durchschwamm. Noch heute wird bei den „Ocean’s Seven“ nach den Regeln vorgegangen, die damals gegolten haben. Wie sehen sie aus?

Im Grunde sehr simpel: kein Neoprenanzug, keine Schwimmhilfen und keine Berührung mit dem Beiboot, das dich begleitet.

„Was in unserer Gesellschaft häufig fehlt, ist die Haltung, selbstbestimmt durchs Leben zu gehen.“

Wie hält man es ohne Neoprenanzug zwölf Stunden in Gewässern aus, die so kalt sind, dass die meisten Menschen dort nach einer Stunde erfrieren würden?

Durch Training. Ich habe mir beispielsweise im Winter eine Regentonne in den Garten gestellt, diese mit Wasser gefüllt und bin jeden Tag bis zum Hals hineingestiegen. Oft genug musste ich erst mal die Eisdecke an der Wasseroberfläche brechen, ehe es losgehen konnte.

Wie haben Sie sich in der Regentonne die Zeit vertrieben?

Ich habe Rechenaufgaben gelöst und Musikvideos geschaut.

Warum?

Es geht darum, in extremer Kälte, wenn der Körper eigentlich herunterfahren will, das Bewusstsein aufrechtzuerhalten, anstatt in die Ohnmacht abzudriften. Dieser Übergang ist fließend, deswegen musst du dich permanent selbst zurückholen, musst konzentriert und wach bleiben. Also stellte ich mir Kopfrechenaufgaben und schaute mir Michael Jacksons Video zu „You Rock My World“ an.

Lässt sich diese Konzentration tatsächlich über zwölf Stunden im offenen Ozean halten? Dort wird man ja wohl kaum Handyvideos schauen können.

Du hast gar keine andere Chance, als dauerhaft im Moment zu sein. Ansonsten gaukelt dir das Gehirn vor, du wärst irgendwo anders und das fühlt sich dann vollkommen real an: Auf einmal sitzt man mit seiner Familie zu Hause am Frühstückstisch, obwohl man eigentlich gerade bei neun Grad in Badehose durch einen See in Schottland schwimmt. Das ist vergleichbar mit der Todeszone, die man beim Besteigen des Mount Everest erlebt.

Sie sagen, dass 70 Prozent der Leistung beim Überwinden einer solchen Marathonschwimmstrecke im Kopf entstehen. Kann man sein Kälteempfinden tatsächlich ausschalten?

Wir Menschen, und da schließe ich mich explizit mit ein, sind heute vollkommen verweichlicht und nutzen nicht im Ansatz das Potenzial, das unser Körper besitzt. Wer ist heute schon noch darauf eingestellt, seine Komfortzone freiwillig weit hinter sich zu lassen? Das warme Wasser kommt aus der Leitung, Lebensmittel liegen im Kühlschrank bereit. So sieht das Leben für die meisten von uns aus. Ich glaube nicht, dass vor 150 Jahren jemand gesagt hätte „Mir ist kalt“ oder „Ich habe Hunger“. Denn das war damals quasi der Normalzustand.

Es gibt aber doch einen Unterschied zwischen „Ich beiße kurz die Zähne zusammen“ und der Tatsache, den Körper zwölf Stunden lang Wassertemperaturen von neun Grad Celsius auszusetzen.

Auch da sind wir wieder bei der Komfortzone. Wenn ich durch den Nordkanal von Nordirland nach Schottland schwimme, dann hat das nichts mit körperlichem Wohlbefinden zu tun, wie wir es kennen. Ich war ja freiwillig in dieser Situation und kreierte mir ein ganz persönliches Wohlbefinden, indem ich mich komplett auf diesen Moment, auf das Wasser eingelassen habe. Dann stellten sich tatsächlich auch Glück, Zufriedenheit und Wohlbefinden ein, selbst unter solchen extremen Bedingungen.

Gab es Momente, in denen Sie merkten, dass die Kälte gefährlich wurde?

Nur einmal, als ich zur Vorbereitung in einem neun Grad kalten See namens Loch Lomond in Schottland schwamm. Ansonsten nicht wirklich, denn die Kälte ist schon vom ersten Augenblick an beißend, und jeder Teil deines Körpers sagt dir: Ich muss sofort hier raus. Aber du hast ja trainiert, diese Situation auszuhalten. Also gibt es kein Zurück mehr. Hin und wieder lese ich in den Medien, ich hätte die Meerengen „bezwungen“. Das ist aber völliger Blödsinn. Du bezwingst da gar nichts. Wenn überhaupt, dann bezwingst du dich selbst. Und das lohnt sich, denn wer ist schon während eines Taifuns in Japan mitten im Ozean rumgeschwommen?

Was faszinierte Sie in diesen besonderen Momenten?

Du spürst den Ozean – diesen riesigen, Milliarden Jahre alten Organismus, aus dem alles Leben entsprang – vollkommen ungefiltert und darfst für ein paar Stunden Teil davon sein. Für mich sind solche Momente ein großes Privileg. Ich trage eben keinen Neoprenanzug, habe keine Ausrüstung oder zwei andere Leute neben mir. Ich merkte sofort, wenn ich in eine Strömung geriet und das Wasser dort zwei, drei Grad kälter oder wärmer wurde. Stieß ich auf eine Qualle, gab es sofort eine Rückmeldung auf meiner Haut. Schwamm da ein Stück Plastik rum, merkte ich das auch unmittelbar. Deswegen nimmt jeder, der so etwas macht, auch eine riesige Portion Demut mit. Du bist da draußen unglaublich verletzlich. In jeder Hinsicht.

Sie schwammen häufig auch stundenlang in absoluter Dunkelheit. Welche Rolle spielt die Angst?

Unheimliche Situationen kann man ebenfalls trainieren, um dadurch seine Angst zu besiegen. Du musst dir vorher einfach bewusst machen, dass du nachts schwimmst, mit Tausenden Metern Wasser unter dir. Dass du vielleicht von Quallen zerstochen wirst, Haie um dich herumschwimmen werden. All das sind Szenarien, die dir mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnen werden.

Und da kann man sich drauf einstellen?

Nur bedingt. Aber wenn du im Trainingslager auf Mallorca schwimmst und ein paar Quallen im Wasser siehst, dann musst du eben auch mal rein in die Meute. Viele Leute belächelten mich dafür, aber ich habe das einfach gemacht. Klar kannst du dich nicht gegen das Gift der Nesseln sensibilisieren, das tut jedes Mal höllisch weh. Aber dadurch weißt du irgendwann, was auf dich zukommt, und eliminierst so nicht nur die Ungewissheit, sondern auch einen Großteil der Angst.

Ein wichtiger Baustein während der Vorbereitung war Ihr Boot Camp auf Mallorca. Was und wie haben Sie dort trainiert?

Der Fokus lag auf schwimmspezifischen Übungen zur Kraftausdauer und den unterschiedlichsten Erschöpfungsszenarien. Im Grunde geht es für jeden, der sich an „Ocean’s Seven“ probiert, um die Frage, welche Leistung man selbst bei der größtmöglichen Erschöpfung noch abrufen kann. Ich musste mich also zur Vorbereitung durch extrem lange und zahlreiche Einheiten so schnell wie möglich in diesen Erschöpfungszustand versetzen. Danach konnte ich meine Arme nicht mehr richtig heben, konnte mich nicht mehr alleine anziehen. Aber ich bin trotzdem noch vier Stunden weitergeschwommen. Dich kontrolliert bei dieser Plackerei auch niemand, da steht kein Coach am Beckenrand. Du bist fast die ganze Zeit komplett allein, vertraust dir selbst, machst das, was du dir vorgenommen hast. Hört sich einfach an, ist es aber nicht.

Wie lässt sich so ein Projekt mit dem Familien- und Berufsleben vereinbaren?

Um das Training so effektiv wie möglich zu gestalten, habe ich meinen Trainingsplan am Reißbrett entworfen. Und während der Zeit, die ich mit meiner Familie verbrachte, habe ich nicht im Internet gesurft, habe nicht unsinnig am Handy rumgespielt oder mich sonst irgendwie abgelenkt. Ich habe versucht, diese Momente so intensiv und bewusst wie möglich zu erleben. Quality time eben!

Für die längste Strecke, die 44 Kilometer des Kaiwi-Kanals zwischen zwei Inseln von Hawaii, schwammen Sie 18 Stunden und 26 Minuten. Wie läuft so ein Tag im Wasser ab?

Im Grunde ist das wie ein langer Spaziergang. Du gehst einfach ins Wasser und schwimmst und schwimmst und schwimmst. Wobei niemand weiß, wann oder ob du ankommen wirst.

„Der Ozean konnte mit mir tun und lassen, was er will. Und das hat er meistens auch gemacht.“

Das klingt zu einfach für das, was Sie dort geleistet haben.

Vor Ort war mein Schwager Jürgen immer mit dabei. Du organisierst dir noch jemanden, der das Begleitboot fährt, und sprichst mit dem Kapitän den genauen Startort und -zeitpunkt ab. Alles, was du unterwegs benötigst, vor allem die Verpflegung, musst du vorher organisieren. Am Tag selbst ist dann Schluss mit dem ganzen Gequatsche: Mitten in der Nacht stehst du am Strand von einer Hawaii-Insel. Es ist stockfinster, du bist allein – und dann geht's los.

Hatten Sie Rituale, bevor es ins Wasser ging?

Nein. Ich bin grundsätzlich ein eher unaufgeregter Typ. Wobei, nicht immer. Einmal im Jahr fahre ich mit meiner Tochter in den Vergnügungspark, und wenn wir dort auf der Achterbahn unterwegs sind, bekomme ich schon beim Anstehen feuchte Hände. Und ganz oben mache ich mir immer fast in die Hose.

Das Marathonschwimmen ist extrem anstrengend. Wie füllen Sie auf der Route Ihren Energiehaushalt auf?

Dafür ist das Beiboot da: Alle halbe Stunde streckte mir Jürgen einen langen Kescher entgegen, in dem hochkalorische, für Ausdauersportler entwickelte Getränke lagen. Ich brauchte viel Energie, die ich möglichst einfach herunterschlucken konnte. Nur einmal, zwischen O’ahu und Moloka’i, musste ich auf Hühnerfrikassee vom Vortag ausweichen, weil der Rest schon aufgebraucht war. (lacht.)

Hat man bei Distanzen von mehr als 50 Kilometern im offenen Meer überhaupt das Gefühl voranzukommen?

Nein. Aber das brauchte ich auch gar nicht. Du bist einfach da und schwimmst, bis irgendwann das andere Ufer vor dir liegt. Du siehst ja sowieso nichts, denn unter dir ist alles dunkel oder blau. Selbst das Boot siehst du meist nicht, denn es fährt in der Regel nicht direkt neben dir, vor allem dann nicht, wenn die Wellen hoch sind, da ansonsten die Gefahr bestünde, vom Boot erschlagen zu werden, sollte es kentern.

Gab es Momente, in denen Sie ans Aufgeben dachten – oder sich zumindest gefragt haben: Was zum Teufel mach ich hier eigentlich?

Klar. Stundenlang. Der Gedanke ans Aufgeben war allgegenwärtig. Und es ist auch gut, ihn als Option zuzulassen. Die hohe Kunst ist, dann trotzdem weiterzumachen. Nicht dem ersten Drang nachzugeben. Sie haben sich ja heute Morgen auch dazu entschieden, aufzustehen, obwohl Sie vermutlich nicht ausgeschlafen waren. Sie hätten auch „aufgeben“ und im Bett liegen bleiben können.

Meine Alternative war aber nicht, fast zehn Stunden in Badehose durch den Ärmelkanal zu schwimmen.

Aber das spielt doch keine Rolle! Beides hat mit einem Willen zu tun, mit einer bewussten Entscheidung: Aufstehen – oder eben weitermachen –, auch wenn es anders einfacher wäre. Wir stehen im Leben häufig vor solchen Entscheidungen, zum Beispiel, sich nicht von seinem Partner oder seiner Partnerin zu trennen, obwohl es auch mal schwierig ist – und stattdessen daran zu arbeiten, dass es wieder funktioniert. Was in unserer Gesellschaft häufig fehlt, ist die Haltung, selbstbestimmt durchs Leben zu gehen, statt sich selbst als arme Sau zu sehen, die immer alles ertragen muss. Mich hat ja niemand gezwungen, diese sieben Meerengen zu durchschwimmen. Im Gegenteil. Von Freunden, Familie und anderen Leuten gab es auch Kritik.

Was bekamen Sie zu hören?

Mir wurde eine Midlife-Crisis angedichtet, oder es wurde gefragt, was ich mir damit wohl beweisen wolle. Oft projizieren die Leute diese Situation auch direkt auf sich selbst: Du hältst ihnen einen Spiegel ihres eigenen Lebens vor – und damit kommen sie nicht klar. Weil sie eigentlich auch mal selbst ein Abenteuer erleben wollen, eine Sache mit absoluter Leidenschaft und Konsequenz angehen wollen. Der Unterschied ist: Ich habe es gemacht – und sie nicht. Das macht sie nicht zu schlechteren Menschen, aber sie selbst wurmt es trotzdem.

Bevor Sie den Santa-Catalina-Kanal in Kalifornien durchschwommen haben, trafen Sie Steven Munatones, den Schöpfer der „Ocean’s Seven“. Wie erinnern Sie sich an diese Begegnung?

Steven ist ein großartiger Typ, offen und herzlich. Wie ich überhaupt in dieser Szene der Freischwimmer nur auf tolle Menschen gestoßen bin. Das sind Menschen, die echt sind, authentisch, ohne großes Palaver. Häufig spricht man nicht einmal die Sprache der Skipper in den Beibooten, aber man baut trotzdem eine Wahnsinnsverbindung zu ihnen auf. Weil man sich gegenseitig vertraut. Er will ja kein Todeskapitän sein – und du verlässt dich blind darauf, dass er richtig navigiert. Gute Freundschaften und tiefe Verbindungen verlangen nicht danach, dass man dreimal die Woche telefoniert und sich dauernd sieht.

Sind Sie vor Ihrer letzten Durchquerung, der Straße von Gibraltar am 9. Juni 2019, mit einem anderen Gefühl ins Wasser gestiegen als bei den anderen Strecken?

Ja. Ich wusste ja, dass es die letzte Station war. Der Abschluss einer jahrelangen Reise. Als ich fast fünf Jahre nach dem Durchqueren des Ärmelkanals in Gibraltar angeschlagen habe, war das ein magischer Moment. Aber auch ein bittersüßer, denn ich merkte, dass dieses Projekt, das mich so viel Energie, Zeit und Geld gekostet hat, nun zu Ende war. Einerseits habe ich das jahrelang herbeigesehnt, andererseits tat es mir fast leid, als ich in Afrika ankam. Spürten Sie ein Gefühl der Leere? Nein. Ganz im Gegenteil. Das klingt bis heute nach. Ich fühle mich oft, als wäre ich immer noch da draußen. Auf eine gute Art. Nicht so, als wäre ich getrieben oder gehetzt. Ich bin oft in meinen Gedanken immer noch im Ozean. Und das ist schön.

„13 Grad kaltes Wasser? Da würden die meisten nicht einmal für 10.000 Euro reingehen.“

Mit welchem Gefühl gehen Sie heute schwimmen?

Ich bin viel näher dran. Das war aber schon in den letzten drei Jahren so. Als würde ich zu einem alten Freund zurückkehren, in mein Zuhause.

Bislang haben weltweit erst 17 Personen die „Ocean’s Seven“ gemeistert. Sie sind nicht nur der erste Deutsche, dem das gelang, sondern auch der erste, der alle Strecken im ersten Versuch schaffte. Was haben Sie anders gemacht?

Keine Ahnung, zumal die Bedingungen bei mir fürchterlich waren. Ich habe ich mich vorher immer auf diesen „Worst Case“ vorbereitet und die Dinge so angenommen, wie sie auf mich zukamen. Ich bin immer mit reinem Herzen angetreten. Und hätte ich die Durchquerungen nicht geschafft, wäre ich genauso erfüllt gewesen. Und es wird Nachfolgerinnen und Nachfolger geben: Die deutsche Nathalie Pohl war vergangene Woche das zweite Mal an der Cook-Straße, sie ist erst 25 Jahre alt, schwimmt großartig und nimmt die „Ocean’s Seven“ ins Visier. Das hätte ich in diesem Alter niemals hinbekommen.

Gibt es einen Moment aus diesen Schwimmabenteuern, der Ihre Sicht auf die Welt nachhaltig verändert hat?

Die schönsten Momente sind die, in denen du kurz glaubst, irgendwie dazuzugehören und angekommen zu sein. Das ist natürlich ein Trugschluss: Wir Menschen gehören nicht in diese Umgebung. Aber hin und wieder hatte ich für einen Augenblick trotzdem genau dieses Gefühl. Ich habe auch mit dem Ozean kommuniziert.

Im Ernst?

Ja, aber natürlich nicht so, wie wir beide jetzt sprechen. Du hast diese einmalige Perspektive eines Menschen, der für ein paar Stunden Teil dieses Meeres ist, und empfängst ständig Signale. Es ist ein Unterschied, ob ich vom Klimawandel lese, mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf einem Kreuzfahrtschiff sitzend und dem Meer als Kulisse. Oder ob ich mittendrin bin und alles ungefiltert mitbekomme. Dann reagierst du auf die kleinsten Berührungen. Und selbstverständlich gibt es auch wunderschöne Begegnungen.

Zum Beispiel?

Beim Training auf Mallorca schwamm ich im Mittelmeer und sah einen Schwarm Barracudas. Die Jungs, fünf oder sechs von ihnen, waren die ganze Zeit hinter mir und haben, wenn ich anhielt, auch angehalten. Irgendwann scheuchte ich einige andere Fische auf, die dann wiederum von den Barracudas gejagt wurden. In solchen Momenten gehörst du einfach dazu. Das ist vollkommen irre. Was ich noch gelernt habe: Mir wurde klar, dass wir die Erde überhaupt nicht retten können. Die Erde rettet sich selbst. So oder so. Die Frage ist, ob wir in diesem Plan irgendeine Rolle spielen. Wir Menschen sind mehr oder minder geduldet und völlig unwichtig für diesen Planeten. Der Ozean kennt keine Grenzen. Ob das jetzt die Küste von Libyen ist oder von Argentinien, ist diesem riesigen Organismus vollkommen egal. Der sitzt das einfach aus, und er wird noch da sein, wenn wir längst von der Bildfläche verschwunden sind.

Sie sind auch Botschafter der Deutschen Meeresstiftung. Wie genau kann Ihr Projekt zum Schutz der Meere beitragen?

Indem ich aus dieser besonderen Perspektive berichte, die nur wenige Menschen haben, und damit ein Bewusstsein schaffe. Die Leute identifizieren sich eher mit persönlichen Geschichten. Und der Mensch braucht den ständigen Input. Das zeigt ja auch die Werbung. Vor vielen Jahren traf ich den CEO von Coca-Cola und fragte ihn: „Warum investieren Sie Abermillionen Dollar in Ihr Marketing, wenn gefühlt jeder Mensch auf der Welt Coca-Cola schon kennt?“ Er antwortete: „Wir müssen aber immer wieder diese Botschaft in die Köpfe der Leute prügeln, damit das so bleibt, dass Leuten, die richtig Durst haben, vor ihren Augen eine eisgekühlte Coca-Cola-Flasche erscheint!“ Mit dem Umweltschutz ist das genauso: Wenn wir jetzt mit derartigen Kampagnen aufhören, würde das Bewusstsein dafür nach ein paar Jahren verschwinden.

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Zur Person

André Wiersig (geboren am 20.05.1972 in Bochum) ist ein ehemaliger Bahnradfahrer, Triathlet und heutiger Marathonschwimmer. Mit elf Jahren wurde er Mitglied in einem Schwimmverein, trat als Jugendlicher im Triathlon über die Olympia- und später über die Iron-Man-Distanz an. Wiersig absolvierte eine Ausbildung zum Einkaufsassistenten und begann 1995 ein BWL-Studium an der Universität Paderborn. Während eines Praktikums startete er direkt ins Berufsleben und arbeitet heute als Vertriebschef für ein SAP-Beratungshaus in der IT-Branche. Wiersig lebt mit seiner Familie in Paderborn.

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