Gratis-Interview André Wiersig

André Wiersig

„Viele von uns haben das Bewusstsein für den Moment verloren.“

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20. Februar 2020, Paderborn. André Wiersig, 47 Jahre alter Vertriebsmitarbeiter in der IT-Branche, hat das vollbracht, was vor ihm noch kein Mensch geschafft hatte: Er schwamm durch die sieben schwierigsten Meerengen der Welt – direkt beim ersten Versuch. 286,7 Kilometer legte er dafür im Ozean zurück, verbrachte 75 Stunden und 28 Minuten im Wasser. Der Rekordschwimmer spricht am Telefon ruhig und nüchtern von den körperlichen Strapazen, die er durchlebte. Beinahe unterkühlt, als wäre dieses Abenteuer nur ein langer Spaziergang gewesen. Erst als es um die bedeutsamen und schönen Momente geht, macht sich positive Erregung in seiner Stimme bemerkbar.

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Herr Wiersig, wann haben Sie zuletzt warm geduscht?

(lacht) Heute morgen.

Wie war's?

Großartig. Die meisten Leute sehen das als Selbstverständlichkeit an. Für mich ist es ein Luxus. Ich habe zur Vorbereitung auf mein Projekt viele Jahre lang nur kalt geduscht. Und zwar ohne auch nur eine einzige Ausnahme.

Gewöhnt man sich irgendwann an das kalte Wasser?

Nein, nie. Komischerweise empfand ich die erste warme Dusche nach dieser Zeit jedoch als überhaupt nicht angenehm, denn ich war nach der Durchquerung des Nordkanals zwischen Irland und Schottland noch so von Quallen zerstochen, dass es höllisch wehtat. Also drehte ich das warme Wasser ganz schnell wieder ab.

Können Sie sich noch an den Morgen des 2. September 2014 erinnern?

Klar. Ich stand an der Küste von Dover und lief um kurz vor fünf Uhr in den Ärmelkanal. Ich hatte mir diese Situation unzählige Male vorgestellt. Doch wenn es letztlich so weit ist, erlebst du das alles noch mal viel intensiver.

Das Schwimmen durch den Ärmelkanal war der Auftakt des riesigen Abenteuers „Ocean’s Seven“. Worum handelt es sich dabei?

Die „Ocean’s Seven“ sind die sieben am schwierigsten zu durchschwimmenden Meerengen der Welt. Die Liste ist angelehnt an die „Seven Summits“, also die jeweils höchsten Berggipfel der Kontinente. Wobei sich die „Ocean’s Seven“ nur auf fünf Kontinenten befinden. Was macht die Durchquerung dieser sieben Meerengen so schwierig? Vor allem die Bedingungen. Du bist stundenlang in eiskaltem Wasser im offenen Ozean unterwegs. In der Cook-Straße in Neuseeland hat das Wasser 13 Grad. Da würden die meisten Menschen nicht mal für 10.000 Euro reingehen. Auch der Ärmelkanal ist mit ein paar Grad mehr kein Zuckerschlecken, du kämpfst gegen Strömungen und Wellen, schwimmst ohne schützenden Haikäfig und darfst dich auf der gesamten Strecke nirgendwo festhalten. Oft startest du an extrem abgelegenen Orten. Du kannst auch nicht immer atmen, wenn du willst, weil häufig riesige Wellen über dich hereinbrechen.

Die Durchquerung des Ärmelkanals gelang Ihnen direkt im ersten Anlauf. War Ihnen danach sofort klar, dass Sie auch die „Ocean’s Seven“ angehen wollen?

Nein. Den Ärmelkanal alleine zu durchschwimmen – dieses Vorhaben wird von einem riesigen Mythos umgeben, für mich fühlte sich das wie der Zenit an. Bis heute erreichen mehr Leute den Gipfel des Mount Everest, als Menschen den Ärmelkanal durchschwimmen. Wenn in England jemand herausfindet, dass du ein sogenannter Channel Swimmer bist, bekommst du in jedem Pub erst mal eine Runde ausgegeben. (lacht) Die „Ocean’s Seven“ kannte ich zudem noch gar nicht. Erst als mir ein Arbeitskollege das Interview mit Steven Redmond zeigte, der 2012 als erster Mensch die „Ocean’s Seven“ gemeistert hatte, erfuhr ich davon – und war sofort von der Idee fasziniert.

Wie bereitet man sich auf ein solches Projekt vor?

Mit viel Verzicht auf Freizeit und Familienleben, mit Durchhaltevermögen, den richtigen Leuten um sich herum und der Bereitschaft, seine Komfortzonen immer und immer wieder zu verlassen.

Macht das Spaß, oder ist das pure Anstrengung?

Ich schwimme für mein Leben gern, liebe das Meer mit all seinen Facetten und fand das deswegen super. Vermutlich auch, weil ich vollkommen erwartungsfrei in dieses Projekt gegangen bin. Der Ozean konnte mit mir tun und lassen, was er wollte. Und das hat er meistens auch gemacht.

Was macht der Ozean denn?

Er nimmt mich auf. Es dauert zwar immer eine Zeit, bis das geschieht, aber ich bin jemand, der komplett mit dem Element Wasser verschmelzen kann. Ansonsten hätte ich in Neuseeland niemals durch die Cook-Straße schwimmen können, denn die Bedingungen waren schlecht. Ich habe mich aber so auf den Ozean eingelassen, dass es mir gelang, oben zu bleiben und nicht unterzugehen.

Sie kämpften dort mit meterhohen Wellen, das Beiboot, das Sie begleitete, wäre beinahe gekentert.

Der Kapitän wollte gar nicht erst starten und später mehrfach abbrechen. Diese Episode der „Ocean’s Seven“ führte schließlich dazu, dass Jürgen Peters, mein Schwager und wichtigster Begleiter bei diesem Projekt, und ich einen beinahe mystischen Ruf als „die Deutschen“ bekamen. Die meisten wären nämlich unter diesen Bedingungen niemals angetreten, geschweige denn angekommen. Wir haben erlebt, wie Skipper der Beiboote anderen „Ocean’s-Seven“-Aspiranten später sagten: „Bei diesem Wetter fahre ich keinesfalls raus. Es gibt nur einen Menschen, der unter diesen Bedingungen angetreten und auch angekommen ist. Und das ist ‚der Deutsche‘. Du musst jetzt wieder nach Hause, sorry.“ (lacht) Aber Spaß beiseite, natürlich hätten wir nichts dagegen gehabt, wenn es auch mal einfacher gewesen wäre.

Wie wichtig war es, sich diesen Naturgewalten von Beginn an unterzuordnen?

Extrem wichtig. Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist das im Umgang mit Menschen genauso wichtig. Deinen Partner, Chef oder Kunden kannst du ja auch nicht kontrollieren. Auch da ist es am besten, alles zuzulassen und sich von den Erwartungen loszusagen, die wir an unser Umfeld und bestimmte Situationen haben.

Der Brite Matthew Webb war 1875 der erste Mensch, der den Ärmelkanal durchschwamm. Noch heute wird bei den „Ocean’s Seven“ nach den Regeln vorgegangen, die damals gegolten haben. Wie sehen sie aus?

Im Grunde sehr simpel: kein Neoprenanzug, keine Schwimmhilfen und keine Berührung mit dem Beiboot, das dich begleitet.

„Was in unserer Gesellschaft häufig fehlt, ist die Haltung, selbstbestimmt durchs Leben zu gehen.“

Wie hält man es ohne Neoprenanzug zwölf Stunden in Gewässern aus, die so kalt sind, dass die meisten Menschen dort nach einer Stunde erfrieren würden?

Durch Training. Ich habe mir beispielsweise im Winter eine Regentonne in den Garten gestellt, diese mit Wasser gefüllt und bin jeden Tag bis zum Hals hineingestiegen. Oft genug musste ich erst mal die Eisdecke an der Wasseroberfläche brechen, ehe es losgehen konnte.

Wie haben Sie sich in der Regentonne die Zeit vertrieben?

Ich habe Rechenaufgaben gelöst und Musikvideos geschaut.

Warum?

Es geht darum, in extremer Kälte, wenn der Körper eigentlich herunterfahren will, das Bewusstsein aufrechtzuerhalten, anstatt in die Ohnmacht abzudriften. Dieser Übergang ist fließend, deswegen musst du dich permanent selbst zurückholen, musst konzentriert und wach bleiben. Also stellte ich mir Kopfrechenaufgaben und schaute mir Michael Jacksons Video zu „You Rock My World“ an.

Lässt sich diese Konzentration tatsächlich über zwölf Stunden im offenen Ozean halten? Dort wird man ja wohl kaum Handyvideos schauen können.

Du hast gar keine andere Chance, als dauerhaft im Moment zu sein. Ansonsten gaukelt dir das Gehirn vor, du wärst irgendwo anders und das fühlt sich dann vollkommen real an: Auf einmal sitzt man mit seiner Familie zu Hause am Frühstückstisch, obwohl man eigentlich gerade bei neun Grad in Badehose durch einen See in Schottland schwimmt. Das ist vergleichbar mit der Todeszone, die man beim Besteigen des Mount Everest erlebt.

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