Literatur

SPECIAL: Neue Biographien

Leben als Werk

Die Biographie lebt – ein Blick auf aktuelle Neuerscheinungen verrät sogar: Sie ist lebendiger denn je. Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Persönlichkeiten hervorgebracht, bei denen öffentliche und Privatperson, Leben und Werk verschmelzen. Reichlich Futter für spannende Biographien. Wir blicken auf Beispiele aus Wissenschaft, Zeitgeschichte und vor allem Kultur.

Leonard Mlodinow
Stephen Hawking. Erinnerungen an den Freund und Physiker

Rowohlt, 272 Seiten

Steigen wir ein in den bunten Reigen, mit einem, an den man sofort denkt, wenn man das Wort „Physiker“ hört. Genauer: mit seinem Ende. “Ich nahm Abschied von Stephen in der Kirche St. Mary, einem 500 Jahre alten Gebäude im Zentrum von Cambridge.” Leonard Mlodinow blickt konsequent subjektiv, als Ich-Erzähler, zurück auf das Leben seines Freundes Stephen, der nicht irgendein Stephen ist, sondern Hawking, der vermutlich bekannteste Physiker der vergangenen Jahrzehnte, der im März 2018 verstarb. Dass hier nicht nur ein Physiker über einen Physiker, sondern auch ein Freund über einen Freund schreibt, macht diese Biographie gleichermaßen intellektuell anregend wie menschlich warm. Ein Buch wie eine Umarmung.

Robert M. Zoske
Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen

Propyläen, 448 Seiten

Eine Umarmung ganz anderer Natur: Vor zwei Jahren hat sich Robert M. Zoske bereits Hans Scholl gewidmet (“Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose”), nun nähert sich der Theologe und Historiker dessen Schwester Sophie. Zoske möchte, als Gegensatz zum überhöhten öffentlichen Gedenken, “den ganzen Menschen zeigen”, was in Anbetracht all der innovativen, hier versammelten biographischen Zugänge wenig reflektiert klingt, zumal der pseudo-relativistische Zugang lediglich dazu dient, erst recht “Sophie Scholls Vermächtnis als das [zu] bewahren, was es ist: ein lebendiges Zeugnis für die Sehnsucht nach Freiheit.” Der Rest ist erwartbare Quellenhuberei, die einem wörtlichen Zitat im Zweifelsfall mehr vertraut als einer gut erzählten Passage.

Maren Gottschalk
Frida?

Goldmann, 416 Seiten

Frida Kahlo fasziniert, als Künstlerin, Stilikone und als Frau. Maren Gottschalk hat mit „Frida“ einen atemberaubend schönen Roman über eine kurze, aber bedeutende Etappe im Leben der Malerin geschrieben. Die Jahre 1938/39 verbrachte sie überwiegend außerhalb ihrer mexikanischen Heimat, in New York und Paris, und erlebte dort Trubel wie Einsamkeit, Anerkennung wie Enttäuschung. Immer wieder lässt Gottschalk die aufstrebende, gleichwohl verunsicherte Künstlerin auf prägende Ereignisse ihrer Vergangenheit zurückblicken und erzählt dermaßen eindringlich von der Entstehung einzelner Gemälde, dass man nach der Lektüre darauf brennt, sich selbst ein Bild von ihnen zu machen. So ist das Buch mehr als ein biographischer Roman: Es ist Philosophie, Kunstunterricht, Religion und Geschichte.

María Hesse/Fran Ruiz
Bowie – ein illustriertes Leben

Heyne, 168 Seiten

Wenn es einen Künstler gab, nur einen, der das Spiel mit Identitäten und Persönlichkeiten zur Kunstform perfektionierte - die möglicherweise gar größer wurde als das musikalische Kunst-Werk selbst, mit diesem gleichwohl untrennbar verbunden - dann ihn: Bowie. María Hesse und Fran Ruiz nähern sich dem chamäleongleichen Musiker nicht klassisch biographisch, sondern kongenial, stricken weiter an der Geschichte, die der im Jahr 2016 verstorbene Brite über sich selbst erzählte. Bowie tritt als Ich-Erzähler auf, flankiert von grandiosen Zeichnungen Hesses, die bereits eine Frida-Kahlo-Biografie im selben Stil zum Leben erweckte. Das Ergebnis will weniger erklären als zeigen, spricht mehr die Sinne an als den Verstand. So wird der erste Satz der Einleitung zum Fazit: “Dieses Buch ist vieles zugleich.”

Benjamin Moser
Sontag: Die Biografie

Penguin, 928 Seiten

Pulitzer-Preis für die beste Biographie und der Autor als einziger offiziell autorisierter Biograf - Benjamin Mosers Deutung des Lebens der amerikanischen Ausnahme-Schriftstellerin Susan Sontag landet mit reichlich Vorschusslorbeeren auf dem Lesestapel. Es ist ein mutiges, meinungsstarkes Werk. Moser macht eines der zentralen Themen Sontags zum Schlüssel ihrer Biographie: die Metapher. Gleichwie die Schriftstellerin zeitlebens mit den Beziehungen von Abbild und Inhalt, Photographie und Photographiertem, Ding und sprachlicher Bezeichnung rang, dechiffriert Moser das Verhältnis zwischen Sontag, der ikonischen Projektionsfläche und dem Menschen Susan, dem er in Tagebucheinträgen, frühkindlichen Prägungen und dem Zeugnis zahlreicher Weggefährten nachspürt - ein wilder, lohnender Ritt.

Alfons Kaiser
Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris

C.H. Beck, 383 Seiten

Modejournalist Alfons Kaiser nähert sich Stilikone Karl Lagerfeld, der die soziale Distanzierung zum Lebensmotto erkor, lange bevor das Wort unrühmliche Flügel bekommen sollte. Gründlich recherchiert, chronologisch gegliedert und mit 383 Seiten erstaunlich knapp gehalten, liefert Kaiser Wissenswertes und skurrile Details aus Lagerfelds Leben. Der Stil ist angenehm zurückhaltend. Kaiser verkneift sich psychologisierende Deutungen und beschränkt sich auf die Darstellung dessen, was er mit Fakten belegen kann: Basis sind Gespräche mit mehr als 100 Freunden und Vertrauten des Modezaren, dazu unzählige unveröffentlichte Briefe, Notizen und umfassendes Archivmaterial. So entsteht das Porträt eines gestrengen Verschwenders, dessen mit preußischer Gründlichkeit inszenierte Opulenz im Zeitalter von “Fridays for Future” bereits kurz nach seinem Tod gründlich aus der Zeit gefallen erscheint.?

Blake Gopnik
Warhol. Ein Leben als Kunst

C. Bertelsmann, 1.232 Seiten

“Die definitive Biographie” soll es sein, kündigt der Verlag wenig bescheiden an. Aber geht das überhaupt, bei einem Künstler wie Andrew Warhola, der Andy Warhol wurde - und der sich dem Definitiven zeitlebens entzogen hat? Immerhin: Gopnik häuft 1.232 Seiten an, gespickt mit zahlreichen, teilweise exklusiven Abbildungen, akribisch sortiert in chronologische Kapitel, die zeigen, wie in der Kunstfigur Warhol die Grenzen zwischen Leben und Kunst verwischten, wie die eigene Biographie zur Biomasse des Künstlers wurde, formbar nach eigenem Gusto, nicht mehr zu trennen vom Werk. Das macht die Spurensuche des Biographen zur Sisyphos-Arbeit aus Biographie, Kunstgeschichte und Philosophie. Dass an dieser Arbeit sage und schreibe sechs Übersetzer beteiligt sind, bleibt indes nicht ohne Folgen: Die Sprache rumpelt bisweilen und zeigt ungeschliffene Ecken und Kanten, ganz im Gegensatz zum Hochglanzwerk ihres Gegenstands. Die Lektüre ist trotzdem ein Vergnügen - nicht definitiv, aber definitiv unterhaltsam.

Bert Rebhandl
Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär

Zsolnay, 288 Seiten

Was ließe sich noch Ungesagtes sagen über Jean-Luc Godard, diesen großen, größten französischen Filmemacher des 20. Jahrhunderts? Ziemlich viel, wie sich in Bert Rebhandls Biographie herausstellt - was auch daran liegt, dass bislang in deutscher Sprache überraschend wenig gesagt worden ist. Aber nicht nur, denn "in erster Linie”, so erinnert uns Rebhandl einleitend, “muss es darum gehen, Godard als die Jahrhundertchiffre JLG zu begreifen und zu deuten; eine Kippfigur an der Grenze zwischen Biografie und Werk, zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung, zwischen Subjektivität und Politik, zwischen moderner Kunst und digitalem Zeitalter.” Das klingt anspruchsvoll und liest sich phasenweise auch so. Ein echter Mangel wird das nie, da Rebhandl in leichtem, sympathisch-distanziertem Ton erzählt, der in den besten Momenten gar ins Lakonische kippt. Godard auf gut Deutsch.

Daniel Monninger, Hannah Heubel, Maria Nowotnick