Literatur

30.06. | Buch der Woche

Judith Hermann • Daheim

S. Fischer

Neuanfang am Meer

In Judith Hermanns feinsinnigem Roman erzählt eine Frau davon, was zurückgelassen werden muss, um sich in einer kargen Landschaft eine neue Existenz aufzubauen.

„Damals, in diesem Sommer vor dreißig Jahren“, als die Ich-Erzählerin in einem Neubaugebiet einer westdeutschen Stadt lebte und am Fließband in einer Zigarettenfabrik arbeitete, wurde sie von einem Mann angesprochen. Er sei Zauberer und auf der Suche nach einer neuen Assistentin. Um sich eine Vorstellung zu machen, solle sie ihn in sein Haus begleiten. Dort begegnet die Erzählerin nicht nur seiner mürrischen Frau und erfährt vom Vorhaben einer gemeinsamen Reise, sondern macht sich auch probeweise mit der Kiste für den Trick der geteilten Jungfrau vertraut. Als sie darin Platz nimmt, überkommt sie ein Anflug von Panik. „Und einen Moment später dachte ich, ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen. Mein Herz wäre in zwei Hälften geteilt, ich war da, und ich war ganz woanders. An einem anderen Ort, sehr weit weg.“ Wenige Seiten und ein halbes Leben später ist die Ich-Erzählerin tatsächlich an einem anderen Ort und dieses Gefühl nur noch eine dumpfe Erinnerung. An der Nordseeküste hat sie ein altes Häuschen bezogen, nachdem ihre Tochter Ann am Polarkreis eigene Wege geht und die Ehe mit ihrem Mann Otis gescheitert ist.

Beides hat Spuren hinterlassen. Etwas Grundsätzliches ist zu Ende gegangen, vielleicht das, was Familie ausmacht. Nun schreibt sie Otis in kurzen Briefen, wie es ihr in ihrem selbstgewählten Exil geht und was sie beschäftigt. Etwa, wie sie eines nachts von der Kälte geweckt feststellt, dass ihre Haustür sperrangelweit aufsteht. „Von dieser Nacht an hatte ich einen gewissen Respekt, von dem ich dachte, er wäre der Preis für das Alleinsein.“ Die Berlinerin Judith Hermann hat 1998 mit ihrem hochgelobten Debüt, der Erzählungssammlung „Sommerhaus, später“, den Ton gesetzt, an dem sie seither gemessen wird. Doch weder die drei Erzählungsbände „Nichts als Gespenster“, „Alice“ und „Letti Park“ noch ihr Debütroman „Aller Liebe Anfang“ erfüllten die Sehnsucht des Feuilletons nach dem nächsten großen Wurf. Das schafft nun ihr zweiter Roman. Er ist das poetische Protokoll eines Neuanfangs an der See. Dort greift die Erzählerin ihrem Bruder in dessen Kneipe unter die Arme, taucht mit ihrer Nachbarin Mimi in lokale Mythen ein und findet bei einem wortkargen Schweinebauern unverhofft Halt.

„Daheim“ ist kein Landflucht-Roman im herkömmlichen Sinne, sondern eine große Geschichte der inneren Einkehr. Was brauchen wir, um uns daheim zu fühlen? Und worauf können wir verzichten? Von solchen Fragen ausgehend entwickelt dieser atmosphärisch dichte Text eine ungeheure Anziehungskraft. Die Handlung ist geradlinig, ohne einfach zu sein, die Figurensprache authentisch, ohne sich anzubiedern, die Auseinandersetzung mit der Welt inspirierend, ohne zu belehren. In der kargen Landschaft – „da, wo sich die Dinge verschärfen“ – kommt die Ich-Erzählerin still und leise bei sich selbst an. Bald schon ist sie Stütze für diejenigen, die gerade noch für sie da waren.

Judith Hermann
Daheim

S. Fischer • 192 Seiten

Thomas Hummitzsch