Musik

30.06. | Album der Woche

Georg Solti • Der Ring des Nibelungen

Decca

30.06. | Album der Woche - Georg Solti • Der Ring des Nibelungen

Foto: Decca


Der neue Ring des Nibelungen

Vor mehr als 60 Jahren wurde in Wien etwas erschaffen, das bis heute einmalig ist. Und etwas, das sich nur selbst übertreffen konnte. Georg Soltis Inszenierung von Wagners Ring des Nibelungen gilt als die beste Klassik-Aufnahme aller Zeiten. Eine Überarbeitung verleiht ihr jetzt sogar noch größeren Glanz.

Er wird gemeinhin nur als »Der Ring« bezeichnet. 25 Jahre lang hat Richard Wagner (1813 – 1883) daran gearbeitet und den »Ring des Nibelungen« als vierteiligen Opern-Zyklus angelegt: »Das Rheingold«, »Die Walküre«, »Siegfried« und »Götterdämmerung«. Er hat eine Welt mit Zwergen, Riesen, Göttern und Drachen gezeugt, ausgelegt für ein 100-köpfiges Orchester, Männer-, Frauen- und Kinderchor, 34 Solisten und einer eigens entworfenen Basstuba. Der vom Antisemitismus seiner Zeit nicht unberührte deutsche Komponist beschränkte sich nicht auf die Musik. Er verfasste auch das Libretto und entwarf Anweisungen für die Inszenierung. Ein Pferd und eine Schmiede mit 18 Ambossen sollten unter anderem auf die Bühne gebracht werden, Instrumente aus dem Off erklingen. Wagner legte fest, von welcher Seite des Saales die Solisten während ihres Vortrags aufzutreten und in welche Richtung sie abzutreten haben. Als der 16-stündige Zyklus 1876 in Bayreuth uraufgeführt wurde, stammten auch die Pläne für das Festspielhaus von ihm. Die Wagnersche Gigantomanie ist nicht nur eine Herausforderung an das Sitzfleisch der Zuhörer, sondern auch für alle Versuche, den Ring und seine Inszenierungs-Vorgaben auf Tonträgern festzuhalten. Zur Zeit von Schellack wären weit über 100 Scheiben zusammengekommen. Es brauchte Schallplatten mit längerer Laufzeit und die Errungenschaft von Stereo, um den »Ring« auf Tonträgern als Ganzes mit allen Vorgaben abzubilden. Vor allem aber musste ein Dirigent her, der Wagners Vorstellungen von Musiktheater inszenieren konnte. Der wurde gefunden in Person des 1912 in Budapest geborenen Györgi Stern. Der Pianist mit jüdischen Wurzeln hatte Ungarn kurz vor dem Einmarsch deutscher Truppen verlassen, seinen Namen in Georg Solti geändert und sich einen hervorragenden Ruf erarbeitet. 1946 unterschrieb er bei der Plattenfirma Decca einen exklusiven Dirigenten-Vertrag und blieb dort bis zu seinem Tod 1997. Bei Aufführungen von Wagners »Tristan« in Berlin und »Die Walküre« in München zeigte sich, dass Solti es verstand, die dramatische Theater-Inszenierung und die Musik Wagners als Einheit auf die Bühne zu bringen. Dies blieb dem Decca-Recording-Manager John Culshaw nicht verborgen. Als Ende der 50er Jahre Zwei-Kanal-Schallplatten auf den Markt kamen, avancierte Culshaw zum Stereo-Pionier bei Oper-Produktionen. Sein Credo lautete: Die Hörer einer aufgenommenen Oper müssen emotional in das Drama eingebunden werden. Mit Culshaw als technisch-kreativem Kopf, den Wiener Philharmonikern und hochkarätig besetzten Opernstimmen begannen im September 1958 unter der Leitung von Georg Solti im Wiener Sofiensaal die Aufnahmen für den kompletten »Ring des Nibelungen«. Die Decca hatte das zu einem Tanzsaal umgebaute Dampfbad aus dem 19. Jahrhundert für Studioproduktionen übernommen, weil die Architektur für Nachhallzeiten sorgte, die einem klassischen Konzertsaal entsprachen. Sieben Jahre später, am Abend des 19. November 1965, war alles im Kasten. Jeder Ton und jedes Wort wie auch jede darüber hinausgehende Anweisung Wagners waren in Perfektion realisiert und aufgenommen. Niemals zuvor war »Der Ring« mit derartiger Konsequenz durchgezogen worden. Vor 10 Jahren wurden die Original-Master-Bänder aus dem Sofiensaal in High Definition auf 24Bit / 192 kHz digitalisiert. Bis dahin standen nur Kopien mit geringerer Auflösung zur Verfügung. Mit den neuen Transfers bot sich mehr Volumen in den Signalen und eine größere Dynamik-Spanne zwischen laut und leise. Dominic Fyfe, Supervisor der jüngsten Bearbeitung, und der Remastering-Engineer Philip Siney betonen, dass es für sie entscheidend war, »werkgetreu umzusetzen, was die Verantwortlichen damals vorhatten. Culshaw war überzeugt, dass Wagners Vorstellungen ein theatre of the mind waren« – eine Inszenierung für die Vorstellungskraft der Hörer durch Sound. Siney hat neben dem traditionellen Remastering eine Dolby Surround Version angelegt, die das Geschehen aus dem Sofiensaal in dreidimensionaler Räumlichkeit darstellt. Diesen Mix gibt es jedoch nur per Streaming oder als Hybrid Super Audio CD. Alle anderen Formate kommen in einem remasterten Stereo-Mix.

götterdämmerung Der Ring des Nibelungen (Georg Solti)
Das Rheingold · Die Walküre · Siegfried · Götterdämmerung (erscheint am 30. Juni) Decca

Nach den ersten drei Teilen des Rings ist ab dem 30. Juni auch das Finale, die »Götterdämmerung«, erhältlich: in Form von vier mit jedem CD-Player abspielbaren Hybrid SACDs oder sechs Deluxe LPs. Das Vinyl bietet dank des Half-Speed-Masterings aus dem Abbey Road Studio einen noch intensiveren Hörgenuss als der Ambient-Mix. Hier entwickelt die innovative und revolutionäre Produktion von John Culshaw eine bisher bei Wagner noch nicht gehörte Klangfülle. Culshaws Entscheidung, die traditionelle Anwendung von Kugelmikrofonen bei Klassikaufnahmen durch Richtmikrofone zu ersetzen, verhalf dem Orchester zu einem stereophonen Ereignis, dessen Soundbreite über die Grenzen der aufgestellten Lautsprecher hinausgeht. »Der Ring des Nibelungen« in toto kommt Ende Juni in einer Deluxe Holzbox Edition. Komplett mit 19 LPs, Blu-ray Audio, umfangreichem Booklet und exklusiven Drucken.

Helmut Philipps