Literatur

29.06. | Buch der Woche

Roberto Saviano • Aufschrei. 30 Anstöße für eine mutigere Welt

Hanser

29.06. | Buch der Woche - Roberto Saviano • Aufschrei. 30 Anstöße für eine mutigere Welt

Über den Tellerrand

Roberto Savianos neues Buch geht der Frage nach, wo Wut und Gewalt in der Menschheitsgeschichte herrühren – und wie man beidem heute begegnen kann.

Worte können bedrohen, sie können in Form von Hetze sogar zum Tod führen. Aber sie vermögen ebenso, wie Roberto Saviano in seinem neuen Buch „Aufschrei“ bemerkt, das Gegenteil zu bewirken: „Mit dem Wort band er [der Mensch] sich an andere, erklärte sich und ließ zu, dass andere sich ihm erklärten. Durch das Wort vereinte er sich mit anderen, um zu kämpfen, besser zu werden, neue Räume des Lebens, des Denkens, des Rechts zu erschließen.“ Und so enthält das Werk beide Dimensionen: Es zeigt die Gewalt auf und diskutiert zugleich Gegenrezepte. Doch zunächst zur Fallanalyse. Nicht nur an Saviano selbst, der durch seine Aufdeckungen von mafiösen Aktivitäten in Italien früh ins Fadenkreuz der Paten geriet, lässt sich die schier endlose kriminelle Energie der Menschheit beobachten. Eines von Savianos besten Beispielen für die Zeitlosigkeit des Übels reicht zurück in die Antike. Nachdem die Denkerin Hypatia es inmitten einer Männerdomäne gewagt hatte, eine eigene Philosophieschule zu gründen, wurde sie von „fanatische[n] Bibelstudenten“ entführt, ihrer Kleidung beraubt und zerstückelt. Was hilft gegen derlei grauenvolle Ereignisse? Die bloße Ächtung der Täter? Der Bestsellerautor schlägt Gegenteiliges vor.

Obgleich die heutigen Algorithmen die Beschäftigung mit etwas, das nicht zur eigenen Echokammer gehört, verhinderten, müsse das Ziel die Auseinandersetzung mit dem Fremden sein. Daher liest Saviano den von ihm als „Nazi“ deklarierten Staatstheoretiker Carl Schmitt, dessen Schriften vielen als theoretische Grundierung des deutschen Faschismus gelten. Sich seinen geistigen Gegnern zu stellen, ist durchaus anerkennenswert, dabei kommt Saviano aber nicht über eine eher oberflächliche Lektüre hinaus. Auch vor manch intellektuell eher ungewöhnlichem Zusammenhang scheut er nicht zurück. Ein ganzes Kapitel widmet sich der möglichen Verquickung des Hineinhorchens ins Volk durch die Brüder Grimm mit aktuellem nationalistischem Gebaren im Netz. Mag es auf den ersten Blick reizvoll anmuten, die gegenwärtige Überschätzung der Vox populi schon auf die romantischen Märchensammler zurückzuführen, ist die Kausalitätskette im Kern allerdings ziemlich konstruiert. Zumal zahlreiche Literaturwissenschaftler inzwischen davon ausgehen, dass die damaligen Publizisten weitaus mehr Textzeugnisse zusammentrugen, als dass sie mündlich kolportierte Anekdoten niederschrieben. Aber geschenkt.

Gewiss lesen sich Savianos oftmals romanhaft dargestellte Expeditionen in die Kulturgeschichte und philosophischen Notate flüssig, und gewiss gibt sein Horizont eine unglaubliche Breite zu erkennen. Gleichwohl bergen die, wie es im Untertitel heißt, „30 Anstöße für eine mutigere Welt“ kaum besonders innovative Einsichten. Oder anders gesagt: Es mangelt nicht an Plattitüden. „Schrei, wenn man dich zur Vereinfachung zwingt. / Schrei, dass du von dem lernst, der anders denkt als du. / Schrei, dass das Vaterland anzuklagen nicht bedeutet, es in Misskredit zu bringen!“ Auch diese plakativen Imperative auf den letzten Seiten hätte sich Saviano besser gespart.

Roberto Saviano
Aufschrei. 30 Anstöße für eine mutigere Welt

Hanser, 512 Seiten

Björn Hayer