Literatur
29.05. | Buch der Woche
Eshkol Nevo • Trügerische Anziehung
Fatale Einsamkeit
Drei Menschen. Drei Liebesgeschichten. Drei Abgründe. Eshkol Nevo lässt die Figuren in seinem mitreißenden Roman mit sich selbst und der Welt hadern, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Eine Obstplantage ist nicht der Garten Eden, aber im Talmud gibt es eine Geschichte, in der vier Weisen in einen Garten gehen. In dem hebräischen Wort für diesen Garten, Pardes, schwingt das Paradies ebenso mit wie der Obst- und der Lustgarten. Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo nutzt diese Vieldeutigkeit, um das Mystische und Rätselhafte des Daseins in seinem neuen Roman zum Klingen zu bringen. Er erzählt hier die Geschichte von Chelli und Ofer, die jeden Samstag eine Runde durch die lokale Obstplantage drehen. Ein Ritual, das ihre Ehe in der Balance hält. Bis Ofer eines Tages zwischen den Büschen verschwindet und nicht mehr wiederkommt. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen, doch die wenigen Spuren verlaufen im Sand. Chelli fragt sich, was mit ihrem Mann geschehen ist. Ist er zum Opfer eines Verbrechens geworden oder hat er einen Schlussstrich gezogen und irgendwo neu angefangen? In der Rekonstruktion der Ereignisse, die zu jenem verhängnisvollen Ausflug geführt haben, traut sie sich und ihren Gewissheiten schon bald nicht mehr über den Weg. Gemeinsam mit ihrer Tochter Ori sucht sie in kurzen Gleichnissen, die Ofer unter Pseudonym veröffentlicht hat, nach Hinweisen, die sein Verschwinden erklären könnten. Die verwirrende Geschichte von Chelli ist eine von drei Erzählungen, aus denen sich Eshkol Nevos flirrender Roman subtil zusammensetzt. Sie schließt dieses Werk ab, das tief in die psychologischen Abgründe seiner Figuren eintaucht und die Parallelwelten, die sich dort eröffnen, vermisst. Das Buch beginnt mit Omri, der nach sei- ner Scheidung in Bolivien Abstand sucht. Dabei verliebt er sich in die schöne Mor, die sich mit ihrem mürrischen Mann in den Flitterwochen befindet. So unmittelbar, wie sich Omri und Mor begegnet sind, trennen sich ihre Wege. Zurück in Israel erfährt Omri, dass Mors Gatte bei der Reise ums Leben kam. Er sucht die trauernde Witwe auf und verfällt erneut ihrem Charme. Als die Polizei auftaucht und Morverdächtigt, ihren Mann umgebracht zu haben, weiß er nicht mehr, wem oder was er glauben soll. An sich selbst zweifelt auch Dr. Caro, ein älterer und allseits geschätzter Chirurg, der nach dem Krebstod seiner Frau den Dienst wieder aufgenommen hat. In der Klinik stellt er sich schützend vor eine junge Assistenzärztin, die auf den Schürzenjäger unter den Oberärzten hereingefallen ist. Zwischen ihnen entwickelt sich ein vertrauensvolles Verhältnis, bis er sich plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, sexuell übergriffig gewesen zu sein. In den drei lose verbundenen Geschichten rekonstruieren die Ich-Erzählerinnern und -Erzähler rückblickend ein Ereignis, das ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Dabei lösen sich ihre Gewissheiten auf und die Grenze zwischen Wunsch, Angst und Wirklichkeit verschwimmt. An einer Stelle wird David Lynchs geheimnisvolles Meisterwerk »Lost Highway« erwähnt, in dessen Zwielicht man ein zentrales Motiv dieser doppelbödigen Erzählungen vermuten kann. Gleichermaßen faszinierend wie bedrohlich loten diese Geschichten die »Trügerische Anziehung« aus, der sowohl Figuren wie Leser:innen dieses von Ulrike Harnisch überzeugend übersetzten Romans erliegen. Im Lockdown geschrieben, zeigt dieser ebenso düstere wie packende Roman die fatalen Folgen der Einsamkeit auf. Mit Gespür für die inneren Abgründe blickt der israelische Schriftsteller seinen Figuren in die traurigen Seelen und geht dem mysteriösen Konstrukt aus Liebe, Verlust und Hoffnung auf den Grund.
Eshkol Nevo
Trügerische Anziehung
übersetzt von Ulrike Harnisch
dtv • 304 Seiten
Thomas Hummitzsch