Literatur

29.03. | Buch der Woche

Deepti Kapoor • Zeit der Schuld

Blessing

29.03. | Buch der Woche - Deepti Kapoor • Zeit der Schuld

Deepti Kapoor
Zeit der Schuld

Hardcover
688 Seiten, 28,00 €


Ghandis Alptraum

Mit einem Auge aus der anstehenden Verfilmung gelingt Deepti Kapoor ein spannender Gesellschaftskrimi über den um sich greifenden Gangsterkapitalismus in Indien.

Ajay kann schon mit Anfang zwanzig auf eine beachtliche Karriere zurückschauen. Aufgewachsen in bitterer Armut, wurde er als kleiner Junge von seiner Familie verkauft, um auf einem Bauernhof im Norden Indiens zu arbeiten. Als sein neuer Vormund stirbt, heuert Ajay in einer Touristenbar an, wo er nicht nur ein paar Brocken Deutsch und Englisch aufschnappt, sondern auch die Bekanntschaft von Sunny Wadia macht. Dass Ajay fleißig, gelehrig, abstinent und loyal ist, beeindruckt den wohlhabenden Playboy, der Männer mit solchen Eigenschaften gut gebrauchen kann. Daheim in Delhi ist Wadia nämlich als Sohn eines Immobilientycoons bekannt, dem mafiöse Methoden nachgesagt werden. In dessen Entourage macht sich Ajay schnell unverzichtbar, zumal er nicht nur in vorauseilendem Gehorsam die unterschiedlichsten Aufgaben übernimmt, sondern auch in Wadias heimliche Affäre mit der Journalistin Neda eingeweiht ist. Doch je mehr er über die Machenschaften hinter der staatstragenden Fassade erfährt, desto problematischer wird Ajays Rolle als rechte Hand des mächtigen Mannes.Das Bild, das Deepti Kapoor in ihrem Roman von der indischen Gesellschaft zeichnet, dürfte so nicht mit der Tourismusbehörde abgestimmt worden sein. Kriminalität, Korruption, Willkür und Gewalt sind in »Zeit der Schuld« so weit verbreitet, dass sie quasi zur soziokulturellen Tapete des Landes werden, von den Familienstrukturen bis in die höchsten politischen Sphären. Vor allem die Behörden sind von innerer Verwesung durchwirkt: Amtsmissbrauch, Bestechung, Vorteilsnah-me und Erpressung, alles am liebsten unter dem Deckmantel öffentlichen Renommees, das die »größte Demokra-tie der Welt« zeitweise ziemlich klein aussehen lässt. Das war schon in Kapoors Romandebüt »A Bad Character« so, und das nimmt in ihrem neuen Buch eine filmische Form an, die das Lesepublikum wie ein Suchscheinwerfer durch den lichtlosen Sumpf der Handlung führt. Tatsächlich sind die Spannung und die erzählerische Geschwindigkeit das Beste an »Zeit der Schuld«. Die knapp 700 Seiten spulen sich in einem kurzweiligen Tempo herunter, das wenig Zeit zum Innehalten lässt. Dass das Buch mit seinen Actionszenen, seinen überraschenden Wen-dungen und den vielen Cliffhangern an eine zeitgenössische Fernsehserie erinnert, ist kein Zufall: Angeblich ist eine entsprechende Bearbeitung bereits ebenso in Auftrag gegeben worden wie zwei Romanfortsetzungen für weitere mögliche Staffeln. Darin liegt aber auch eine gewisse Problematik, denn analog zu den Konventionen einer Thrillerserie muss das Buch eine Nonstop-Action aufrecht erhalten, die früher oder später zu Lasten der Plausibilität geht. So originell der Schauplatz und der Blick über den europäischen Tellerrand sind, so vertraut wirkt die Figurenkonstellation nach einer Weile. In verschiedenen Besprechungen wird »Zeit der Schuld« inzwischen bereits mit Mario Puzos »Der Pate« verglichen, – doch der Vergleich hinkt. Für das Subtile, das die diabolische Bedrohlichkeit von Vito Corleones Familien-betrieb ausmacht, ist Deepti Kapoor meistens nicht zu haben.

Markus Hockenbrink