Musik

28.10. | Album der Woche

Die Nerven • Die Nerven

Glitterhouse

28.10. | Album der Woche - Die Nerven • Die Nerven

Ein Streifen Licht

Obwohl sie schon vor der Pandemie geschrieben worden ist, funktioniert diese Platte wie eine Spiegel, in dem sich die Zukunft zeigt. Die Nerven liegen blank.

„Es ist nicht so, als hätten wir vor vier Jahren die perfekte Welt gehabt“, sagt Max Rieger. „Ganz im Gegenteil.“ Rieger ist der Sänger der Band mit dem schönen Namen Die Nerven, und außerdem mindestens zu 50 Prozent für deren Texte verantwortlich. Die haben es der Kritik besonders angetan, denn hinter Songtiteln wie „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ oder „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“ verbergen sich Zeitgeistbefunde mit wahrlich ominöser Atmosphäre. „Beim Texten geht es mir darum, erst einmal das Gefühl klarzumachen und nicht den Umstand an sich“, sagt der Sänger. „Was macht das, was gerade auf der Welt passiert, mit mir? Was davon ist ichbezogener Blödsinn, und was davon ist etwas, das auch andere Leute diesbezüglich fühlen könnten.“ Ichbezogenen Blödsinn gibt es deshalb auch sehr wenig auf dem neuen selbstbetitelten Album mit dem schwarzen Hund auf dem Cover, dafür aber viele neue Wege, ein ungreifbares Unwohlsein zu artikulieren. Zwar sind die Mitglieder der Nerven noch alle recht jung, doch die Antennen sind ausgefahren. Und das Gefühl, in Zeiten des radikalen Umbruchs zu leben, in dem alte Gewissheiten wegbrechen, ist ein mulmiges. „Ich glaube, es ist schwierig, während die Geschichte sozusagen parallel zu uns geschrieben wird“, sagt Max Rieger. „Und ich frage mich, wie man in zehn Jahren über diese Zeit spricht. Ob es im Nachhinein wirklich der Anfang vom Ende war, oder ob es nur ein paar harte Jahre sind, und am Schluss geht es uns wieder gut. Aber jetzt fühlt sich alles real an, und es fühlt sich auch ernst an.“

Im Vergleich zu anderen künstlerischen Äußerungen sei das neue Nerven-Album kein Doomsday-Festival geworden, findet der Sänger. „Der Großteil von dem, was im Moment in der Kunst passiert, ist eine Angstreaktion“, sagt er. „Das fühlt sich fast ein bisschen nihilistisch und apokalyptisch an, wie sorglos gerade alles gehandhabt wird. Alle scheinen vom Glauben abzufallen, dass irgendetwas noch irgendetwas bedeuten würde. Dass etwas einen Mehrwert haben könnte, dass man sich an etwas festhalten könnte.“ Nicht mit Max Rieger. Das neue Album seiner Band ist wie ein dunkles Zimmer mit einer Tür, unter der ein Streifen Licht durchschimmert. Ausgerechnet Post-Punk als Anker. „Das, was wir mit den Nerven machen, fühlt sich fast schon ein bisschen anachronistisch an“, sagt er. „Da ist sicher auch eine Portion Nihilismus mit dabei, aber bestimmt nicht so viel wie im aktuellen Konsens.“

Die Nerven
Die Nerven

Glitterhouse, 7. Oktober

Morbide und tröstlich sind zwei Vokabeln, die gut zum neuen Nerven-Album passen. Darauf beheimatet: Ein Song namens „180°“, laut Band „ein Liebeslied an den Tod“, den alten Gleichmacher. Oder „Ganz egal“, ein dorniges und wüstes Ding, das trotz aller Anstrengung nie so klingt, als wäre dieser Band wirklich etwas egal. Die Doppelbödigkeit ist der Trick, die poetische Verpackung der zusätzliche Reiz. Zwei andere Vokabeln, die in dieser Beziehung gut zum neuen Nerven-Album passen: dunkel und schön.


Foto: Lucia Berlanga

Markus Hockenbrink