Literatur

28.04. | Buch der Woche

Kazuo Ishiguro • Klara und die Sonne

Blessing

Sehnsüchtige Roboterliebe

Ishiguros erster Roman nach Empfang des Literatur-Nobelpreises beweist seine große Qualität: System- und Gesellschaftskritik über den Umweg einer postmodernen Fabel.

Bereits der Vorgänger-Roman „Der begrabene Riese“ war ein einziges literarisches Kunststück: Ein im Mittelalter angesiedelter Fantasy-Roman, der sich bei näherer Betrachtung als Parabel auf die falschen Götzen entpuppte, denen wir in der Postmoderne nacheifern. Durchaus überraschend, aber keineswegs unberechtigt erfolgte zwei Jahre nach dessen Veröffentlichung die Belohnung mit dem Nobelpreis für Literatur. Entsprechend gespannt durfte man auf das erste Buch nach dieser höchsten literarischen Auszeichnung sein, und es bestätigt Ishiguros Erzählkraft ebenso wie sein Talent, mittels einer spannenden und skurrilen Story die ganz großen Fragen aufzuwerfen, die uns heutzutage – und während der Corona-Pandemie mehr denn je – beschäftigen.

Im Zentrum steht Klara, ein mit Solarenergie betriebener Android, geschaffen, um Kinder und Jugendliche als beste Freundin durch deren Adoleszenz zu begleiten. Der Zielgruppe entsprechend ist sie kein Superhirn und nicht darauf programmiert, das gesamte Weltwissen abzuspulen; stattdessen verfügt sie über weiche Skills wie Empathie und Taktgefühl, sie kann sorgenvoll sein und sich fürchten, dabei sogar Sehnsucht und Hoffnung empfinden. Ein Roboter also, der stets zwischen kindlicher Gutgläubigkeit und abgewichstem Scharfsinn pendelt – und der damit die Idealform dessen darstellt, was sich gegenwärtig etwa in Japan immer mehr durchsetzt: Sozialroboter als Ersatz für zwischenmenschliche Interaktion. Wie jeder Roboter mit KI-Ausstattung lernt auch Klara stets dazu. Zu Beginn des Buches blickt sie aus dem Schaufenster eines Spielwarenladens in die Welt: Sie beobachtet die Menschen und ihr Verhalten, zieht Rückschlüsse und formt sich daraus eine Art Traumkundin, von der gekauft zu werden sie immer inständiger hofft. Mit Josie, „geschätzte vierzehneinhalb“, geschieht dies sodann; doch was zunächst wie eine glückliche Fügung scheint, erweist sich zusehends als menschliches Roboterdrama.

Umso mehr, als die gesamte Geschichte nicht in einer weit entfernten Dystopie angesiedelt ist, sondern in einem Umfeld, das sich kaum je von der aktuellen Welt unterscheidet – voller Umweltprobleme und Nagelboutiquen, mit einem handelnden Personal zwischen fiesen Teenagern, gestressten Karrierefrauen und ungeachteten Migranten als Haushaltshilfen. In dieser durchaus alltäglichen Gemengelage versucht Klara, ihren Platz und ihre Existenzberechtigung zu finden – und, mehr noch, einen Ort, an dem sie lieben kann. Darum ging es Ishiguro mit diesem Roman, wie er kürzlich in einem Interview erklärte: „Was ist das Besondere am Menschen? Sind Menschen grundsätzlich einsam? Was ist menschliche Liebe?“ In dieser spannend erzählten Geschichte steckt aber noch weitaus mehr: Kritik an der Maximierung des technisch Machbaren, Messerscharfes über gefährliche Techniken der Leistungsoptimierung, eine kritische Bewertung zunehmend hierarchischer Gesellschaftsstrukturen. Und dies alles aus der Perspektive eines süßen Roboters. Kein Wunder, dass Ishiguro zu den bedeutendsten Erzählern der Gegenwart gehört.

Kazuo Ishiguro
Klara und die Sonne

Blessing, 352 Seiten

Sascha Krüger