Literatur

24.03. | Buch der Woche

Johann Scheerer • Unheimlich nah

Markiert fürs Leben

Mit „Unheimlich nah“ blickt Johann Scheerer auf die Zeit nach der Entführung seines Vaters. Jetzt müsste doch alles gut sein. Ist es aber nicht.

Wenn es um die Kunst anderer geht, ist der Hamburger Musikproduzent Johann Scheerer eine Art Lebensretter. Seines jedenfalls habe er gerettet, gab der britische Rockbarde Pete Doherty zu Protokoll, nachdem Scheerer ihn bei sich im Clouds Hill Studio wohnen und arbeiten ließ, wobei eine sehr eindringliche Platte mit dem Namen „Hamburg Demonstrations“ entstand. Auch für andere Musiker – Faust etwa oder Omar Rodríguez López – bedeutete der Aufenthalt in Clouds Hill, wenn nicht immer zwingend eine Lebensrettung, so doch den Aufbruch zu neuen künstlerischen Ufern. Scheerer gibt stets den fantastischen Gastgeber, der es Künstlern ermöglicht, endlich einmal frei zu sein. Frei von überbordenden Erwartungen, frei vom Druck des Erfolgs oder auch von den Vorgaben irgendwelcher Plattenfirmen. Seine eigene Freiheit zu leben, ja sein eigenes Leben zu retten, das ist allerdings eine ganz andere Aufgabe. Es ist eine Aufgabe, der sich nicht jeder stellt, nicht jeder stellen kann oder stellen will. Und womöglich ist Scheerer auch deshalb so gut darin, für andere da zu sein, weil es für ihn ein sehr weiter Weg war und ist, ein gesundes, nicht durch äußere Umstände eingeschränktes Leben zu führen. Denn seine „Umstände“ sind letztlich alles andere als normal. Scheerer ist der Sohn von Jan Philipp Reemtsma, der 1996 Opfer einer Entführung und quälend lange 33 Tage in einem Keller gefangen gehalten wurde. Über diese Entführung – und was sie mit den Angehörigen machte – schrieb Johann Scheerer vor drei Jahren den autobiografischen Erlebnisbericht „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, der zu einer kleinen literarischen Sensation geriet. Mit vermeintlich gutem Ende: Das Lösegeld wurde bezahlt, Reemtsma freigelassen, die Familie war wieder beisammen. Wie sehr solch ein Ereignis einen Familienverbund auch hernach verändert, schildert Scheerer nun in „Unheimlich nah“. Das Buch erzählt von einer Jugend unter ständiger Beobachtung, von Punkmusik unter Personenschutz und der Frage, ob man ein Mädchen küsst, wenn aus einer schwarzen Limousine am Straßenrand zugeschaut wird. Scheerer spricht davon, „markiert zu sein“, berichtet, wie unmöglich es ist, mit dem schwer traumatisierten Vater wieder in Kontakt zu kommen. „Unheimlich nah“ erzählt ebenso eindringlich und sprachgewandt wie der Vorgänger aus seinem Leben, das einem Versteckspiel gleicht: voller Notlügen, Ausreden und Halbwahrheiten, die die Überwachung vor Freunden und Bekannten verheimlichen sollen, immer auf der Suche nach einem Stückchen Normalität. Einzig, warum dieser zweite Teil nun als Roman fungieren soll, erschließt sich nicht: Die Form nimmt dem Erzählten ein gutes Stück seiner Dramatik und bagatellisiert Scheerers Suche nach Freiheit zur fiktionalisierten Coming-of-Age-Story.


Johann Scheerer
Unheimlich nah
Piper, 331 Seiten

Sascha Krüger