Literatur

23.10. | Buch der Woche

Hedwig Richter • Demokratie. Eine deutsche Affäre

C.H. Beck

HEDWIG RICHTER
Demokratie. Eine deutsche Affäre

C. H. Beck • 400 Seiten

Mit »Demokratie. Eine deutsche Affäre« legt Hedwig Richter ein ebenso streitbares wie betont optimistisches Buch zur Demokratiegeschichte vor, das zum Nachdenken und Nachfragen einlädt.

Frau Richter, über die Deutschen und ihr Verhältnis zur Demokratie ist bereits viel geschrieben worden. Was macht Ihr Buch anders? Mir ist wichtig zu betonen, dass die deutsche Geschichte kein Weg in den Westen, sondern immer Teil des Westens war. Demokratiegeschichte verläuft viel transnationaler, als wir oft denken. Paradoxerweise ist Demokratiegeschichte zugleich immer nationale Geschichte. Sie braucht den Rahmen der Nation, um sich zu entwickeln.

Was können wir aus der Geschichte für die Demokratie heute lernen? Die Geschichte selbst zeigt, wie Menschen aus der Geschichte lernen. Aus dem Nationalsozialismus können wir lernen, dass Demokratien keine Garantie gegen den Abgrund sind. Die zweite Lehre: Demokratie lebt von ihrer Einschränkung. Diese Lehre hat man unter anderem nach 1945 gezogen.

Zugespitzt auf die aktuelle Corona-Pandemie: Was macht diese Krise mit unserem Verhältnis zur Demokratie? Aktuell bewährt sich das liberale europäische Modell sehr gut. Wir sehen, dass Regierungsparteien gestärkt werden, dass extremistische und populistische Parteien verlieren. In den USA hingegen gibt es traditionell einen schwächeren Rechtsstaat, der Mühe hat, mit so einer fundamentalen Krise umzugehen.

»Die Bauern sind Sklaven« – mit diesem Zitat aus dem 18. Jahrhundert beginnt Ihr Buch. Sind heute die Zerleger in den Fleischfabriken und die Spargelstecher die neuen Bauern? Was wir über die Zustände bei Tönnies erfahren haben, ist entsetzlich, und der deutsche Rechtsstaat hat hier sicherlich versagt. Die Gleichsetzung von Arbeitern und Sklaven zeugt jedoch von einer großen historischen Unkenntnis und verkennt, in welch allgemeinem Wohlstand selbst der ärmste Arbeiter in Europa lebt. Medizinische Versorgung, Arbeitszeitbeschränkungen, Zugang zu öffentlichen Bibliotheken – all das hatten die Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht. Selbst die Ärmsten haben bei allem Optimierungspotenzial heute ein viel besseres Leben.

Ihr Buch endet mit Europa und will eine »optimistische Aufklärungschronologie« sein. Das klingt fast hegelianisch, als sei die EU die Manifestierung des vernünftigen Weltgeistes… Zurecht sind wir heutzutage vorsichtig damit, gradlinige Erzählungen zu präsentieren. Vieles hängt von Zufällen ab und Kausalitäten sind oft nur vage zu erkennen. Das ist auch in meiner Demokratiegeschichte wichtig. Trotzdem denke ich, dass die Bundesrepublik und die Europäische Union Kinder der Aufklärung sind. Sie sind zugleich eine Geschichte mit viel Glück – auch da sieht man, wie die Kontingenz hineinspielt.

In Sachen Demokratie leben wir also in der bestmöglichen aller Welten? Soweit würde ich nicht gehen. Das Großartige an Demokratie ist, dass sie die überhaupt nicht selbstverständliche Idee der Gleichheit verfolgt und die Würde aller Menschen ihr Ziel ist. Das gelingt immer wieder, da Demokratie unfassbar flexibel und offen für Kritik ist. Demokratie ist deshalb beständig in der Krise. Sie ist auf Kritik angewiesen und Krise ist ihr Seinsmodus.

Daniel Monninger