Musik

23.10. | Album der Woche

Bruce Springsteen • Letter To You

Sony

BRUCE SPRINGSTEEN
Letter To You

Sony • 23. Oktober

Ein Brief vom Boss

Erstmals seit sechs Jahren hat Bruce Springsteen wieder ein Album mit der E Street Band aufgenommen. »Letter To You« ist in nur fünf Tagen entstanden.

Es ist wohl kaum ein Zufall, dass einer der großen amerikanischen Versöhner ausgerechnet jetzt eine neue Platte veröffentlicht. Spätestens seit »The Rising« sind Bruce Springsteens Veröffentlichungen von politischem Flor umkränzt. Unvergessen die Anekdote vom Autofahrer, der ihn unmittelbar nach 9/11 auf der Straße ansprach. »Wir brauchen dich jetzt«, hatte der Mann gesagt. Springsteen reagierte und brachte mit »The Rising« im Sommer 2002 ein Album heraus, das den Amerikanern Trost spendete und ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits von Feindbildern und Nationalismus entwarf. Anfang 2009 spielte Springsteen den Titelsong bei der Inauguration Barack Obamas, zum Abschluss der Feierlichkeiten sang er zusammen mit Folk-Legende Pete Seeger das programmatische »This Land Is Your Land«. Am Vorabend der nächsten US-Wahlen könnten die Vorzeichen kaum unterschiedlicher sein. Das Land zerrissen, ein Präsident, der im Falle einer Niederlage bereits Prozesse androht, kein Wunder also, dass selbst der Boss den Kragen hochstellt, während die ersten Schneeflocken fallen. Winter is coming. Und was machen Menschen, wenn die Temperaturen sinken, der Frost in die Herzen kriecht? Sie rücken enger zusammen, üben den Schulterschluss mit ihren ältesten Vertrauten. Für Bruce Springsteen hat diese Komfortzone seit Dekaden einen Namen: E Street Band. Zum ersten Mal seit sechs Jahren hat er sich wieder mit seinem legendären Kollektiv zusammengetan, und wenn man im Clip zum eingängigen Titelsong »Letter To You« in die Gesichter schaut, die alten Kempen wie Roy Bittan und Nils Lofgren, Patti Scialfa, Little Steven und Max Weinberg so beobachtet, wird schnell klar: Es mögen die Jahre ins Land gezogen, die Falten zu Furchen geworden sein, aber die Magie, die ist immer noch da. »Ich liebe die Emotionalität von »Letter To You««, sagt Springsteen. »Und ich liebe den Sound der E Street Band, die komplett live im Studio spielt, so wie wir es noch nie zuvor gemacht haben, ganz ohne Overdubs. Wir haben das Album in nur fünf Tagen produziert, und es stellte sich als eines der größten Aufnahmeerlebnisse heraus, die ich je hatte.« Fast 240 Mal war Bruce Springsteen vor drei Jahren am Broadway aufgetreten, hatte 2019 »Western Stars« mitsamt Film veröffentlicht. Jetzt, in diesen Tagen voller Ungewissheit, ist die Zeit reif für ein ungleich direkteres, persönlicheres Format: einen Brief. Vom Boss.

Fazit:
Zwölf Songs umfasst Springsteens 20. Studioalbum, neun davon ganz neu, zudem drei bislang unveröffentlichte Kompositionen aus den 70er- Jahren. Die stilistische Bandbreite ist immens. Es gibt Kontemplatives nach »Nebraska«- Art, gefühlvolle Songs, die an die »Tunnel Of Love«-Ära erinnern und statt Cadillac rollt mal wieder der Zug: »Burnin’ Train« bietet mitreißende Aufbruchstimmung, Jake Clemons’ Saxophon in »The Power Of Prayer« ist ein Kracher.

Foto: Danny Clinch

Ingo Scheel