Literatur

21.12. | Buch der Woche

Marilynne Robinson • Jack

21.12. | Buch der Woche - Marilynne Robinson • Jack

Liebe, Schuld und Sühne

Die US-amerikanische Autorin Marilynne Robinson erzählt in ihrem neuen Roman die verhängnisvolle Geschichte der einsamsten Figur im Kosmos der fiktionalen Kleinstadt Gilead.

Eine junge Frau und ein junger Mann wandeln nachts über einen Friedhof. Niemand darf sie sehen, denn in der Welt, in der sie leben, sind sie nicht füreinander bestimmt. Sie verbringen eine seltsam nahe Nacht zwischen Obelisken und gepflegten Wegen. »Ich wandele barfuß im Dunkeln, und sie tragen meine Schuhe. Dabei kenne ich sie gar nicht. Das ist die seltsamste Lage, in die ich je in meinem Leben geraten bin«, sagt die junge Della Miles zu Jack Boughton. Der Titel von Marilynne Robinsons neuem Roman ist für Eingeweihte vielsagend. Denn John (Jack) Ames Boughton ist der Charakter, der der 79-jährigen Autorin schon immer am meisten Kopfzerbrechen bereitet hat. Der Pfarrerssohn geistert als gefallene Figur durch ihren Kosmos der amerikanischen Kleinstadt Gilead, die Robinson seit gut zwei Jahrzehnten literarisch erkundet. Ihr gleichnamiger Roman, der 1956 einsetzt, wurde 2005 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. Er bildet den Kern, um den die Romane »Lila«, »Zuhause« und »Jack« kreisen. Dass Robinson ausgerechnet Jack einen Roman widmet, ist überraschend. In einem Interview mit The Paris Review sagte sie vor Jahren: »Jack denkt die ganze Zeit – er denkt zu viel –, aber ich würde Jack verlieren, würde ich versuchen, ihm als Erzähler zu nahe zu kommen. Er ist auf komplizierte Weise entfremdet. Andere Leute können ihn nicht verstehen, und er kann sie nicht verstehen.« Nun unternimmt sie den Versuch, (sich) den jungen Jack plausibel zu machen. Das erweist sich als recht kompliziert, ist der Sohn von Prediger Robert Boughton doch von Anfang an als Sorgenkind beschrieben worden. In »Gilead« traf er auf das Misstrauen von Pfarrer (und Erzähler) John Ames, dem besten Freund seines Vaters, weil er ein junges Mädchen geschwängert und zurückgelassen hatte. Das ist wohl auch der Grund, warum sich der Priestersohn hier in der sorgfältigen Übersetzung von Uda Strätling als »Fürst der Finsternis« beschreibt. Seine Geschichte und die Werte seines religiösen Elternhauses liegen schwer auf seinen Schultern. Der für Charme talentierte, aber obdachlose Tunichtgut hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als er der jungen schwarzen Lehrerin Della Miles begegnet, öffnet sich sein Herz. Über Hamlet und Poesie kommen sich beide nah. Die Geschichte wird nicht gut ausgehen, wie Leser von »Gilead« wissen. Denn dort zeigt er John Ames ein Familienfoto, dass ihn neben einer jungen schwarzen Frau und einem schwarzen Jungen zeigt. »Ihr Vater will nicht, dass sie mich heiratet«, räumt er da ein. Doch bis dahin ist noch Zeit, hier wird aus Jacks Perspektive von den Anfängen dieser unmöglichen Liebe erzählt. Mit wohlwollender Neugier begleitet die schreibende Calvinistin Robinson ihre Hauptfigur, hält gar eine Erlösung für ihren Anti-Helden bereit. Doch Jack ist Nihilist, seiner Erzählung wohnt ein zweifelnder und selbstzerstörerischer Ton inne. Bei ihm stehen dem Geschenk der unverhofften Liebe Gefühle von Verrat und Schuld sowie der tief verankerte Rassismus seiner Zeit gegenüber. Eine Tragödie Shakespeare’schen Ausmaßes.

MARILYNNE ROBINSON
Jack
S. Fischer, 384 Seiten, 26,00€

Thomas Hummitzsch