Musik

21.10. | Album der Woche

Michael Wollny Trio • Ghosts

ACT

21.10. | Album der Woche - Michael Wollny Trio • Ghosts

Geister und Erinnerung

Auf seinem neuen Album „Ghosts“ widmet sich der Pianist Michael Wollny der Welt der Geister. Mit Übernatürlichem hat das nur am Rande zu tun.

Michael Wollny, was faszinierte Sie am Konzept der „Hauntology“ — einem Begriff, den der französische Philosoph Jacques Derrida geprägt und den später Kulturtheoretiker wie Mark Fisher adaptiert haben?
„Hauntology“ steht für komplexe Erinnerungssysteme. Das fand ich sehr spannend, weil es viel mit meinem eigenen Gefühl zu tun hat, wenn ich Musik mache oder höre. Elektronische Filmmusik aus den 1960er- und 1970er-Jahren beispielsweise stand damals uneingeschränkt für die Zukunft. Wenn man sie heute hört, wirkt sie aber nicht mehr futuristisch, sondern nostalgisch. Sie erinnert an die Vorstellung, die man in den 70er-Jahren von der Zukunft hatte.

Das Adjektiv „hauntingly“ wird auch im positiven Sinn gebraucht. „Hauntingly beautiful“ etwa bedeutet wie ergreifend schön.
„Haunting“ ist ein wahnsinnig tolles Wort, viel schöner als das deutsche „heimsuchen“. Es bezeichnet eine besondere Qualität, die mich an Musik interessiert: dass sie sich von allein und ungefragt wieder ins gegenwärtige Gedächtnis rufen kann.

Inwieweit spielt das Erinnern eine Rolle in der Komposition?
Komposition ist genau genommen nichts anderes als Erinnerungsarbeit. Wenn wir Musik hören und sie aufnehmen, speichern wir nicht das Stück Musik im Kopf, sondern einen Prozess. Beim Komponieren und sogar beim Improvisieren legt das Gehirn im Kurzzeitgedächtnis diese Prozesse übereinander. Es verlinkt Erinnerungen an Musik neu miteinander und schaut, ob es funktioniert und gut zusammenpasst. Das habe ich in einem Austausch mit einem Team von Neurologen, Biologen, Informatikern und Mathematikern an der technischen Hochschule in Lausanne gelernt.

Also kann Improvisation gar nie ganz im gegenwärtigen Moment verhaftet sein?
Man kann Dinge zufällig passieren lassen. Sobald man ein Instrument in die Hand nimmt, passiert aber immer eine Art Erinnerungsarbeit.

Der Begriff „Geister“ hat ja etliche Bedeutungen — die übernatürliche Ebene ist nur eine davon. Geister funktionieren oft als Auslagerung von Phänomen, die man nicht erklären kann. Selbst heute klassifiziert man viele Dinge, die nicht verarbeitet sind, als Geister. Die Spannbreite reicht von den sprichwörtlichen Leichen im Keller bis zu unerklärten physikalischen Phänomenen. Außerdem gibt es mehrere Arten des Gruselns, etwa das wohlige Erschauern, das mit Glücksgefühlen zu tun hat. Es galt, diese Vielschichtigkeit des Begriffs zu untersuchen.

Michael Wollny
Ghosts

ACT, 29.September

Gemeinsam mit seinem Trio, bestehend aus Tim Lefebvre am Bass und Eric Schaefer am Schlagzeug, begibt sich der Würzburger Pianist Michael Wollny mit „Ghosts“ auf Geistersuche. Erinnerungen an vergangene Utopien, Nostalgie und die Immerwiederkehr von Vergangenem: Wollny erschafft mitreißende Klangbilder aus Gerüsten von Jazzklassikern (Gershwin, Ellington), Popsongs im weiteren Sinne (Nick Cave, David Sylvian), Schuberts Erlkönig sowie zwei eigenen Kompositionen („Hauntology“, „Monsters Never Breathe“).


Foto: Gregor Hohenberg

Markus Brandstetter