Literatur

21.02. | Buch der Woche

Barbara Kingsolver • Demon Copperhead

dtv · 21. Februar

21.02. | Buch der Woche - Barbara Kingsolver • Demon Copperhead

175 Jahre später

Mit ihrem neuen Roman versucht sich Barbara Kingsolver an einer Neuerzählung von Charles Dickens' »David Copperfield«. Die moderne Version ist ebenso fesselnd zu lesen, leider aber auch ähnlich aktuell.

Die offensichtliche Frage lautet: Warum möchte jemand ein 175 Jahre altes Buch, das vom abenteuerlichen Leben eines Waisenjungen im viktorianischen England handelt, ausgerechnet jetzt in die Gegenwart transportieren? Und die offensichtliche Antwort heißt: Weil Dickens’ klassischer Bildungsroman zu den spannendsten Schmökern der Literaturgeschichte zählt und sein humanistischer Auftrag nichts von seiner Aktualität verloren hat. Das lässt sich schon am Setting der Geschichte ablesen: Demon Copperhead ist zwölf Jahre alt, als er seine Mutter verliert; der Vater ist bereits vor seiner Geburt tödlich verunglückt. Für den Jungen beginnt damit eine abenteuerliche Odyssee durch diverse Pflegefamilien, bei der er allerhand windigen Gestalten begegnet. Der Schauplatz der Handlung ist der äußerste Westzipfel von Virginia, eine strukturschwache Region, in der seit dem Aus der Kohleindustrie Arbeits- und Perspektivlosigkeit grassieren. Eine Kulisse wie aus einem Southern Gothic, samt dem entsprechenden Personal, das wiederum Dickens’ berühmter Vorlage entlehnt ist. Mit dem Weltliteraten hat Barbara Kingsolver nicht nur den geschmeidigen Erzählstil und die epische Breite der Geschichte gemein, sondern auch den Anspruch, das lesende Publikum zu Empathie und Anteilnahme zu verführen. Hier sieht sich die Autorin besonders gefordert, denn die Appalachen-Region, in der sie selbst lebt und in der »Demon Copperhead« spielt, ist nicht nur eine der ärmsten in den USA, sondern auch die Heimat der Hillbilly-Hinterwäldler, über die sich der Rest des Landes gerne lustig macht. Mit fatalen Folgen, denn der amerikanische Erfolgsmythos präsentiert hier seine sozialcalvinistische Kehrseite: Wer arbeitslos, arm oder ungebildet ist, muss im Zweifel dumm, faul und selber schuld sein. Wer drogensüchtig ist, übrigens auch, denn als Ende der Neunziger die Opioidepidemie über die USA hereinbricht, ist die Appalachen-Region mit am stärksten betroffen. Dieser verlorene »War on Drugs« bildet den beklemmenden Hintergrund der Geschichte, vor dem Demon Copperheads Aufrichtigkeit und Kingsolvers Menschenfreundlichkeit umso stärker zu Tage treten. Für jeden literarischen Teufel lässt sie ein paar Engel auftreten, deren Auftrag auch ein erzieherischer ist. Hier streift der Roman nicht zuletzt Fragen, die in der politischen Debatte gerne unter den Teppich gekehrt werden. Wieso gab es überhaupt die Kohle-Monokultur in Virginia, Tennessee und Kentucky? Wer hat den Stereotyp vom rückständigen Provinzei in die Welt gesetzt? Wie hängen Bildungsmisere, Pharmainteressen und Drogensucht zusammen? Und ab wann erodieren Armut und ein mangelhaftes Gesundheitssystem eine ganze Gesellschaft? Trotz seiner sozialen Relevanz muss man sich die 864 Seiten von »Demon Copperhead« aber nicht als Elendsbeschau vorstellen, sondern vor allem als Huldigung muskulöser Erzähltraditionen. Schon nach kurzer Zeit fühlen sich die Romanfiguren wie Nachbarn und Familienmitglieder an, die pure Rasanz der Handlung wie eine eigene Droge. Den Pulitzerpreis für Belletristik gab es wohl auch für die humorvolle Schilderung der unbeugsamen Landbewohner, die so ganz anders auftreten als das abgeklärte Personal postmoderner Literatur. Das ist altmodisch im besten Sinne und verlangt nach einem ausgedehnten Leseurlaub, in dem man sich diesen Backstein von Roman zu Gemüte führen sollte. Nicht nur mit dessen Umfang, sondern auch inhaltlich wäre Charles Dickens wohl sehr zufrieden gewesen.


Barbara Kingsolver
Demon Copperhead

übersetzt von Dirk van Gunsteren
dtv • 864 Seiten, 26,00 €