Literatur

20.06. | Buch der Woche

Richard David Precht • Jäger, Hirten, Kritiker

RICHARD DAVID PRECHT

Jäger, Hirten, Kritiker

Goldmann • 23. April

Wie wir leben wollen

Die Digitalisierung geht an niemandem spurlos vorüber – am wenigsten an unserer Gesellschaftsordnung. Wie diese in Zukunft aussehen könnte, untersucht Precht in seinem neuen Buch.

Wer über die Zukunft spricht, muss die Gegenwart verstanden haben. Nach vorn gerichtete Gestaltungsimpulse sind immens wichtig für die Verfasstheit unserer Welt, denn nur so kann gesellschaftlicher Fortschritt entstehen. Richard David Precht ist Autor und Philosoph in einer Zeit, in der die Digitalisierung bereits unseren Alltag durchdrungen hat und ihn maßgeblich mitgestaltet. Kein Wunder also, dass er sie als Stellschraube unserer Zukunft betrachtet, parallel etwa zur Erfindung des Buchdrucks oder zur Dampfmaschine. Bei ihm gehen Gegenwartsanalyse und Utopie Hand in Hand. Die Menschen, die im Hier und Jetzt leben, sind verantwortlich dafür, in welcher Verfassung die Gesellschaft in 20, 50 und 100 Jahren sein wird und wie lebenswert unser Planet noch sein kann. Und, so stellt er heraus, es mangelt an positiven Entwürfen für die nahende Zukunft. Enthusiasmus, verantwortliches Handeln jedes Einzelnen und eine gemeinsame Idee für eine gerechtere Zukunft sind gefragt. Des Pudels Kern also: Wie wollen wir leben? Wenn Erwerbsarbeit immer weiter in den Hintergrund rückt und nicht mehr als Basis für das Selbstwertgefühl der Menschen dienen kann, weil clevere Maschinen eintönige Arbeiten erledigen – welches Gegenkonzept lässt sich für ein gutes Leben aller entwerfen? An die Stelle der Arbeit muss etwas anderes treten, eine Philosophie des 21. Jahrhunderts, des neuen Menschen. Man kann und sollte dies als Chance sehen: Wir stehen an den Toren der Zukunft, ein unbeackertes Feld, für das wir noch keinen genauen Bebauungsplan haben. Doch genau diesen gilt es zeitnah zu entwerfen. Und hier stehen für Precht nicht nur Politiker in der Verantwortung, die das positive Gestalten scheinbar verlernt haben und im ständigen Reagieren auf Ereignisse gefangen sind, sondern jeder Einzelne. Das vernunftbegabte Individuum als Fundament einer gerechteren, ökologischeren Welt. Mit weniger Produktionszwang ließe sich der Blick auf etwas elementar Menschliches lenken: Das Erleben des Moments, das Miteinander und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, ohne dabei in egozentrische Beweihräucherung zu verfallen. Wollen wir am Morgen Hirten, am Nachmittag Jäger und am Abend Kritiker sein? Für Precht ist dies eine Idealvorstellung, ein Konzept, das persönliche Freiheit ermöglicht und damit ein glückliches Leben. Man mag sich dieser Utopie nicht anschließen wollen – wichtig und richtig ist aber die Forderung, überhaupt über unsere Zukunft nachzudenken und Alternativen zu einer hyperkapitalisierten Welt zu entwerfen, die Raubbau an der eigenen Lebensgrundlage betreibt und das Gefälle zwischen denen, die gut und sicher leben können und denen, die in Armut und Hunger ertrinken, weiter forciert. Die mitten aus dem Leben gegriffenen Beispiele, mit denen Precht seine Analyse bebildert, saugen den Leser geradezu in seinen Gedankenstrudel, der um Mensch, Maschinen und Selbstbestimmung kreist. Ein aufrüttelndes Buch, weniger durch polemische Anklagen, mehr durch die Dringlichkeit, die in jedem Kapitel steckt.

Marina Mucha