Literatur

19.12. | Buch der Woche

Judith Schalansky • Verzeichnis einiger Verluste

JUDITH SCHALANSKY

Verzeichnis einiger Verluste

Suhrkamp • 22. Oktober

Gehütete Vergangenheit

Als Schriftstellerin und Herausgeberin erkundet Judith Schalansky Natur, Kultur und Geschichte. Sie schreibt gegen die Vergesslichkeit und Ignoranz unserer Zeit an.

Der Objektkünstler Armand Schulthess ist bereits 50 Jahre alt, als er seinen Bürojob an den Nagel hängt und beginnt, ein Labyrinth aus beschrifteten Tafeln anzulegen, in dem er das Wissen der Menschheit zu ordnen versucht. In Listen und Tabellen kategorisiert er die Welt, die Quellen hortet er in seinem Haus. Bücher- und Zeitschriftenstapel reichen bis zur Decke, bis sich Fenster und Türen nicht mehr öffnen lassen. Einem Don Quijote gleich ist er auf einer Mission: „Alles, was lesbar ist, lesen. Gleiches zu Gleichem tun und alles Gelesene verwahren. Nur Tatsachen abschreiben, Wissen, das sich überprüfen lässt. Da, wo es möglich ist, die Phänomene von den Gesetzmäßigkeiten trennen und stets den Weg vom Allgemeinen zum Individuellen nehmen. Denn das Äußere verweist immer auf das Innere.“ Schulthess verlorengegangene „Enzyklopädie des Waldes“ hat eine der Leerstellen hinterlassen, denen sich Judith Schalansky in ihrem „Verzeichnis einiger Verluste“ widmet. Der edle Band beginnt mit einer Insel. Womit sonst, möchte man fast sagen denn die Autorin debütierte 2009 mit dem eindrucksvollen „Atlas der abgelegenen Inseln“, auf denen sie „nie war und niemals sein werde“. Auch Tuanaki wird sie nicht mehr besuchen können, denn die kleine Inselgruppe ist einem Seebeben zum Opfer gefallen. Der Hafen von Greifswald, Sapphos Liebeslieder, Guerickes Einhorn oder der Kaspische Tiger – es ist eine wilde Mischung verlorener Natur, Kultur und Mythen, auf die man hier stößt. Schreibend zögert Schalansky deren endgültiges Verschwinden hinaus. Der Unterschied zwischen der An- und Abwesenheit von Dingen sei womöglich marginal, solange es die Erinnerung gebe. Illustrationen zeigen, dass irgendwie noch da ist, was nicht mehr da ist. Es gibt so viele Dinge, die verlorengehen, und „letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was übrig ist“, erfährt man im Vorwort. Aus diesen schlichten Resten macht Schalansky mit erzählerischer Wucht Gold. Sie imaginiert Geschichten, mit denen sie den Verlust erst überhaupt begreifbar macht. Atemberaubend der Kampf zwischen einem Löwen und einer Tigerin in einer Arena im alten Rom, fesselnd die Lebensgeschichte des Ruinenmalers Hubert Robert, bewegend Greta Garbos sehnsuchtsvolle Erinnerung an den Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau. „Verzeichnis einiger Verluste“ lässt Letztere begreifen und darüber trauern. Das ist große, die Perspektive auf die Welt verändernde Literatur. Schalansky schreibt gleichermaßen fantastisch wie faktenreich, verarbeitet persönliche Motive wie menschheitsgeschichtliche Ereignisse. Man könnte auch – in Anlehnung an die gleichnamige Buchreihe, die sie bei Matthes & Seitz Berlin herausgibt – sagen, dass diese zwölf Texte „Naturkunden“ sind, in denen sie der Natur von Verlust, Trauer und Erinnerung auf den Grund geht. „Wer die Zukunft kontrollieren will, muss die Vergangenheit abschaffen.“ Judith Schalansky wahrt die Erinnerung und passt auf, dass die Zukunft nicht in falsche Hände gerät. Sie ist eine der bedeutendsten Literaturschaffenden ihrer Generation. THOMAS HUMMITZSCH