Literatur

19.07. | Buch der Woche

Tracey Lien • All die ungesagten Dinge

Piper

19.07. | Buch der Woche - Tracey Lien • All die ungesagten Dinge

Tracey Lien
All die ungesagten Dinge

Hardcover
24,00 €


Wo Ungesagtes laut wird

Tracey Liens Erstlingswerk funktioniert nach altbewährtem Krimi-Rezept. Dabei erzählt die Autorin nicht bloß von einem Mordfall, sondern von Rassismus und dessen tiefgreifenden Folgen.

Das australische Cabramatta der Neunziger hat viele Gesichter: Gefürchtet für Bandenkriminalitität und Drogenszene, gleichzeitig Zuhause für südostasiatische Immigranten, die in den Siebzigern vor Krieg, Unterdrückung und Armut flüchteten. Cabramatta ist also Verzweiflung und Hoffnung, Ankunft und Zurückweisung. So beschreibt Tracey Lien den Vorort von Sydney, in dem die Autorin selbst aufwuchs. In ihrem Debüt »All die ungesagten Dinge« taucht sie tief in die zermürbenden Geschichten der Bewohner Cabramattas ein. Sie alle sind verzweigt mit einem tragischen Todesfall: Denny Tran, Sohn vietnamesischer Immigranten und jüngerer Bruder der Protagonistin Ky, wird nach seiner Abschlussfeier in einem Restaurant ermordet. Die Umstände sind unklar. Als Ky von Dennys Tod erfährt, bleiben viele Lücken: Ihre Eltern, die gebrochenes Englisch sprechen, haben keine Infos von der Polizei erhalten, eine Obduktion des Leichnams haben sie abgelehnt. Ky kann sich damit nicht zufriedengeben. Sie selbst versucht ihr Leben lang, die Vorzeige-Immigrantin zu sein, verhält sich strebsam und unauffällig. Doch als sie von dem mysteriösen Tod ihres Bruders erfährt, bröckelt die perfekte Fassade, die sie sich aufgebaut hat. Sie nutzt ihre Fähigkeiten als Journalistin und gelangt an die Namen derer, die sich am Abend des Unheils in dem Restaurant aufhielten, in dem Denny zu Tode kam. Tracey Lien geht mit ihrer Protagonistin auf Spurensuche. Sie beginnt im Herzen der Familie Tran, mit der Sprachlosigkeit des Vaters, der Strenge der Mutter gegenüber Ky, die in den Augen der Familie weniger wert ist als ihr Bruder, und der Trauer, für die den Trans die Worte fehlen. Dann wechselt sie die Perspektiven und taucht in die teils zerrütteten Leben der Zeugen ein. Von einem zehnjährigen Mädchen vietnamesischer Immigranten über die Hochzeitssängerin, die am Abend der Tat im Restaurant auftrat, bis hin zur Lehrerin von Denny, die wie alle Anwesenden vorgibt, nichts gesehen zu haben. Die Erzählungen sind aufwühlend, starten klein und enden groß, besprechen die rätselhafte Tat und gleichzeitig so viel mehr. Lien verpackt die unterschiedlichen Perspektiven und Erlebnisse so, dass sich ein komplexes Bild von Menschen ergibt, die eines verbindet: der tägliche Kampf um das Akzeptiertwerden. Was bleibt übrig von der Identität Geflüchteter, wenn sie sich lebenslanger Ablehnung an einem Ort aussetzen müssen, den sich Weiße gewaltsam angeeignet haben? Wer sind sie, wenn man den alles überstrahlenden Wunsch nach Akzeptanz und Anerkennung langsam in seine Einzelteile zerlegt? Lien zeigt, wie sich Sprache, Gedanken und ganze Familienbiografien beugen, wenn man in jeder noch so kleinen Alltagssituation um Daseinsberechtigung ringen muss. Die junge Australierin, die mittlerweile in New York lebt, hat sich dafür an Krimi-Werkzeugen bedient – einem mysteriösen Mordfall, der Seite für Seite mehr Facetten erhält und langsam einen Kreis um die Verdächtigen zieht, was vor allem auf die Empathie der Lesenden abzielt. Und das in einer Sprache, die dieses Debüt zum Pageturner macht: einfühlsam, direkt und klar.

Elisabeth Krainer