Literatur

15.05. | Buch der Woche

Beatrice Salvioni • Malnata

Penguin Random House

15.05. | Buch der Woche - Beatrice Salvioni •  Malnata

Wildfang

Beatrice Salvionis Debütroman »Malnata« erzählt von einer Mädchenfreundschaft in gefährlichen Zeiten. Die darin angeführten zentralen Loyalitätskonflikte bleiben auch gesamtgesellschaftlich relevant.

Im italienischen Monza des Jahres 1935 gibt es eine spezielle Methode, Eidechsen zu fangen, die für Kinderhände sonst viel zu flink wären. Statt der Eidechsen angelt man sich einfach ein paar kleine Fische, die man in eine mit Wasser gefüllte Gießkanne steckt und dann am Ufer des Lambro entlangträgt, bis man an die Stelle mit den streunenden Katzen kommt. Mit etwas Glück findet man eine mit einer frisch gefangenen Eidechse im Maul, und mit noch etwas mehr Glück kann man sie zu einem Tausch überreden. »Malnata« ist das Romandebüt der 1995 geborenen Beatrice Salvioni und funktioniert gleich auf mehreren Ebenen. Einerseits ist es eine typische Coming-of-Age-Erzählung, die von der Sozialisation zweier Mädchen aus sehr unterschiedlichen Gesellschaftsschichten handelt. Andererseits ist es ein waschechtes Melodram, das mit allerhand liebens- und hassenswerten Figuren aufwartet und das man sich problemlos als kommende Kinoverfilmung vorstellen kann. Und nicht zuletzt ist es die Auseinandersetzung mit einem Stück neuerer italienischer Geschichte, deren Aufarbeitung bisher nicht gerade reibungslos verlaufen ist. Denn egal ob es um militante Fußballfans, konservative Kleriker oder um Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geht – überall gibt es Zirkel, die Mussolini immer noch als großen Staatsmann betrachten und die im Abessinienkrieg verübten italienischen Verbrechen bis heute leugnen, relativieren oder gutheißen. Salvionis Idee, diesem Missstand mit einer emotionalen, aber auch etwasden meisten anständigen Menschen gemie- den. Auch die gleichaltrige Francesca weiß um den Ruf des ungezähmten Mädchens mit den abgetragenen Kleidern und der ungezähmten Frisur, doch statt Abscheu spürt sie eine ungekannte Anziehung: »Im Vergleich zu ihrem Lächeln erschienen mir die bunten Fleißabzeichen in der Schule und die Komplimente der Erwachsenen kindisch und dumm.« Ihre Faszination hat weniger mit einer aufblühenden Teenagerliebe zu tun als vielmehr mit der Art, wie sich in Maddalenas unnachgiebigem Blick auf die Welt die Lügengebäude der Erwachsenen spiegeln. Schließlich ist Italien zu dieser Zeit ganz im Banne Benito Mussolinis, der im nationalistischen Taumel den mörderischen Abessinienkrieg plant. Und nur wenige haben den Mut, den Faschisten die Stirn zu bieten. Normalerweise geht diese Art von Transaktion mit einer Menge Fauchen und ein paar gehörigen Kratzern einher, aber dafür hat man dann auch seine Eidechse, der man den Schwanz abreißen und zum Armreif umfunktionieren kann. »Als Trophäe«, wie die Malnata es ausdrückt. Die Malnata heißt eigentlich Maddalena, ist etwa zwölf Jahre alt und führt ein beneidenswert ungezügeltes Leben im Stile einer Vagabundin, argwöhnisch betrachtet vom restlichen Stadtviertel. Weil außerdem gemunkelt wird, dass in ihrer Anwesenheit schon merkwürdige Unfälle passiert sind, wird sie »die Unheilbringende« genannt und von vorhersehbaren Jugenderzählung entgegenzutreten, hat etwas Tröstliches, wirkt aber auch ambivalent. Als bloße Kulisse ist die turbulente Vorkriegszeit zu grimmig, sind die Zusammenhänge zu kompliziert. Der Blick durch die Kinderaugen macht diesen Teil der Geschichte zwar sichtbar, aber auch unterkomplex – die Art von Eskapismus, bei der man nachträglich immer auf der richtigen Seite steht. Am Ende fühlt man sich wie Francesca am Anfang der Geschichte: »Ich beobachtete ihre Welt vom Rande aus. Und ich konnte es kaum erwarten, mich ganz hineinfallen zu lassen.«


Beatrice Salvioni
Malnata

übersetzt von Anja Nattefort
Penguin • 272 Seiten

Markus Hockenbrink