Musik

12.11. | Album der Woche

Dave Gahan & Soulsavers • Imposter

Columbia

Foto: Jean Matsuyama


"Manchmal stand ich sehr nah am Abgrund"

Als Sänger von Depeche Mode mag Dave Gahan zuweilen unnahbar wirken, im Gespräch erweist er sich als überaus zugänglich und unverstellt. Mit "Imposter" veröffentlicht er jetzt ein neues Soloalbum, auf dem er Größen wie Cat Power, Bob Dylan oder Neil Young neu interpretiert. Die Rolle des titelgebenden Hochstaplers ist nicht neu für ihn, dennoch scheint die Geschichte diesmal eine andere zu sein – seine eigene nämlich.

Dave Gahan, kennen Sie Thomas Mann?
Ich kenne den Namen, habe aber noch nichts von ihm gelesen, glaube ich.

Eines seiner berühmtesten Bücher trägt den Titel "Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull".
Oh, das klingt interessant, das würde ich sehr gerne lesen.

Der Titelheld gibt sich als jemand anderes aus, um den Militärdienst zu vermeiden mit dem Ziel, an Geld zu kommen und die Herzen junger Damen zu erobern.
Das scheint mir eine spannende Inspirationsquelle zu sein. (lacht)

Der Hochstapler Felix Krull kommt fast wie ein junger Punk daher. Obwohl er ein Krimineller ist, ein Abzocker und Lügner, sieht man ihm viele Verfehlungen nach. Insgeheim beneidet man ihn fast um seine Chuzpe.
Das ist eine tolle Metapher für meine Figur des Hochstaplers, jenen „Imposter“, nach dem ich mein neues Album benannt habe. Ich habe weite Teile meiner Karriere damit verbracht, in den Schuhen eines anderen zu stehen, diese Rolle des Stellvertreters zu perfektionieren – viele, viele Jahre lang. Manchmal stand ich damit sehr nah am Abgrund. Das Bühnen-Ich war natürlich auch ein Teil meiner selbst, aber überwiegend habe ich Geschichten erzählt. Hätte ich wirklich all das getan, wovon ich da in den Liedern berichtete, wäre ich mit Sicherheit im Knast gelandet. Das ist ein sehr schmaler Grat. Auf der Bühne hast du als Performer die Möglichkeit, diese ‚Larger than life‘-Persona anzunehmen, die größer, lauter, schillernder ist als im wirklichen Leben. Gleichzeitig gibt die Bühne dir die Chance, mehr von dir selbst offen zu legen, als du es im Alltag je tun würdest.

Wenn Sie aber ohnehin schon seit Jahren den Hochstapler geben, warum musste es dann jetzt per Albumtitel noch einmal dick unterstrichen werden?
Es ist eine Art Geständnis, das jetzt einfach passte. Natürlich habe ich bei Depeche Mode seit vielen Jahren die Songs eines anderen gesungen – die von Martin Gore, wie wir alle wissen. Angesichts der Coverversionen verschiedenster Künstlerinnen und Künstler schien mir das allerdings auch der perfekte Titel zu sein. Das war die große Herausforderung bei dieser Platte: Wie schaffen wir es, dass dieses fremde Material wirkt und klingt, als käme es von mir? Irgendwann habe ich festgestellt, wie gut, wie zuhause ich mich in diesen Liedern fühle.

Mit welchem Stück hat das angefangen?
Die erste Nummer, die wir aufnahmen, war „Desperate Kingdom Of Love“ von PJ Harvey. Schon nach wenigen weiteren Songs hatte ich das Gefühl, dass hier ein Narrativ entsteht. Die Grundstimmung nimmt dich mit auf eine Reise, und obwohl wir sehr verschiedene Künstler ausgewählt haben, passt alles sehr gut zusammen.

Bemerken Sie einen Unterschied beim Interpretieren eines Liedes von einer Künstlerin im Gegensatz zu einem, das von einem Mann stammt?
Das wurde ich jetzt schon einige Male gefragt. Ich habe allerdings offen gestanden nie darüber nachgedacht. Für mich sind das einfach jeweils Stimmen, die mich berühren, die mir eine bestimmte Wahrheit nahebringen. Manchmal geht es auch gar nicht um sie selbst, sondern um das Leben als solches, und das fühlt sich ehrlich und wahrhaftig für mich an. Das ist mir in den vergangenen Jahren immer wieder so gegangen, sei es bei David Bowie, bei Johnny Cash oder Billie Holiday, bei Bob Dylan und Elvis, oder eben jetzt im Falle von PJ Harvey oder Mark Lanegan: Das sind Stimmen, die eine ganz bestimmte Färbung, einen solchen Klang haben, dass sie mich bereits einnehmen, bevor ich weiß, wovon sie singen, allein durch ihre Tonalität. Dann fühle ich eine unmittelbare Identifikation: Ich könnte dieser Sänger sein.

Nehmen wir Nina Simones "Lilac Wine" aus dem Jahre 1950: Wo ist Dave Gahan in diesem Lied?
Es erzählt von Nina Simones Liebesbeziehung mit dem Wein, der ihr Trost und Sicherheit spendet. Für mich geht es da vielmehr um eine Person, der du dein Herz öffnen willst, was dir aber unmöglich ist, es sei denn, du stehst unter dem Einfluss gewisser Substanzen.

Einige dieser Songs sind so intensiv, allein beim Gedanken daran bekommt man Gänsehaut…
Dann habe ich offenbar einen guten Job gemacht. (lacht)

Ist das für Sie manchmal schwer, in solchen Momenten, mit diesen unmittelbaren und tiefen Empfindungen, am Mikrofon zu stehen?
Das passiert in der Tat. Ich erinnere mich an bestimmte Situationen bei den Aufnahmen. Die Band spielt, ich stehe hinter der Glasscheibe in der Gesangskabine und dennoch ist diese Verbindung, diese Nähe beim Spiel, fast mit den Händen greifbar. Dass man von seinen Gefühlen dermaßen übermannt wird, passiert nicht so oft, aber letztlich ist es das, wonach ich als Musiker, als Sänger strebe. Ich liebe diese Augenblicke. Und ich höre sie auf der neuen Platte, diese Energie, die Verletzlichkeit, die Sehnsucht danach, Teil von etwas zu sein. All das stößt mich unmittelbar auf ein Gefühl in mir: Das bin ich. Das ist es, was ich fühle.

Was bedeutet es für das Verhältnis zu einem Originalsong, wenn man ihn sich so zu eigen macht?
Es bedeutet oftmals, dass man das Original kaum noch hört. Man hat es so verinnerlicht, dass es ein neues Leben bekommen hat. Ich habe neulich mal wieder „Metal Heart“ in der Originalversion von Cat Power gehört und dachte: Oh, das klingt ja doch deutlich anders als das, was wir damit angestellt haben. Das ist auch meinen Kollaborateuren, Rich Machin und den Soulsavers, zu verdanken. Nach drei Alben haben wir inzwischen diese ganz besondere Chemie zwischen uns entwickelt.

Wie wichtig ist es Ihnen, was die Originalinterpreten davon halten? Wenn Mark Lanegan nun eines Abends anruft, mit seiner unverwechselbaren Stimme: „Dave, ich habe da einen meiner Songs auf deiner Platte gehört…“
(Verfällt in dunkles Timbre) „… wie konntest du es wagen?“ (lacht) Wir sind zum Glück befreundet. Rich und Mark haben sogar schon zusammengearbeitet. Witzigerweise erinnere ich mich genau an den Moment, als wir „Strange Religion“, den Song von Lanegan, fertiggestellt hatten. Rich hat es direkt an Mark geschickt. Mark antwortete, dass er das Lied mit dieser Version zum ersten Mal wirklich hören und zum ersten Mal realisieren würde, was er damit ausdrücken wollte. Das war natürlich ein schönes Kompliment.

In den vergangenen Jahren war die Popmusik geprägt vom Abschiednehmen. Der Tod von Prince, ebenso der von Bowie, das waren große Verluste. Wenn man dann noch bedenkt, wie lange große Namen wie U2 oder auch Depeche Mode für ein neues Album brauchen – da geht eine Ära zu Ende, oder?
Ja, in der Tat. So fühlt es sich an. Selbst während der Aufnahmen mit den Soulsavers, die noch unmittelbar vor Ausbruch der Pandemie stattfanden, hatte ich das Gefühl: Hier findet etwas seinen Abschluss. Ich kann das gar nicht so richtig beschreiben. Während der letzten 40 Jahre mit Depeche Mode gab es diese Phasen immer wieder, in denen mir klar wurde: Dies ist das Ende von etwas. Das bedeutet jedoch immer auch, dass etwas Neues beginnt. Je älter du wirst, desto besser wird dein Verständnis für diese Zusammenhänge. Du verlierst die Angst davor.

Sie feiern im nächsten Jahr Ihren 60. Geburtstag. Macht Ihnen dieses Zahl Angst?
Ein bisschen schon. (lacht laut) Ich hatte vor zehn Jahren, kurz vor meinem Fünfzigsten so eine Phase, da sagte ich zu meiner Frau und zu meinen Freunden: Ich glaube nicht, dass ich das alles noch lange mache. Immer noch auf der Bühne stehen und dieses ganz Ding. Aber dann ging es doch immer weiter. So ist es auch jetzt. Ich habe die letzte Tour mit Depeche Mode unglaublich genossen, tatsächlich deutlich mehr als jemals zuvor. Es fühlte sich an, als würden wir all das, was wir zusammen erreicht haben, standesgemäß feiern.

Was würde der 20-jährige Dave wohl von Dave, dem Hochstapler, halten?
Ich denke, der würde ihm sehr gefallen. Er würde sich auf das freuen, was ihn erwartet. In dieser neuen Platte steckt viel von all dem, was ich in diesen Jahren erlebt habe. Manches war gut, manches war nicht so gut. Und das Beste kommt bestimmt erst noch.

Dave Gahan & Soulsavers
Imposter

Columbia, 12. November

Entstanden im Shangri-La Recordings Studio in Malibu, ist „Imposter“ die dritte Kollaboration von Rich Machin und Dave Gahan. Zwölf Songs umfasst die mit der zehnköpfigen Soulsavers-Band aufgenommene Platte, die Originale stammen von so unterschiedlichen Künstlern wie Bob Dylan, Neil Young und Cat Power. Gahan macht sie zu seinen Songs, der Sound der Band umhüllt ihn organisch und warm – ein souliges Hörvergnügen zwischen Sommersonne und blauer Stunde.

Ingo Scheel