Literatur
12.06. | Buch der Woche
Maren Urner • Radikal emotional
DroemerRichtig verbunden
Die Neurowissenschaftlerin und Medienpsychologin Maren Urner sucht nach echten Lösungen. Ihr neues Buch fordert die Überwindung von Strukturen, die »radikale Verbundenheit« verhindern.
Auf dem Klimatag der Deutschen Filmakademie im vergangenen Jahr kündigte der Moderator Maren Urner damit an, dass nach der Lektüre ihrer Bücher und dem Hören ihrer Vorträge das Hirn »eine neue Ausrichtung bekäme«, dass »irgendjemand« im »Kopf aufgeräumt habe«. Und in der Tat spürt man den zielgerichteten Ansatz, den sie bereits als Vorreiterin des konstruktiven Journalismus in Deutschland (von 2016 bis 2019 war sie Chefredakteurin von Perspective Daily) auslebte, auch in ihrem neuen Buch. Keine Klageschrift liegt dort auf dem Tisch, sondern der Versuch eines »gemein- samen Homeruns«, wie sie selber schreibt, eines finalen Spielzugs hin zu einer besseren Gesellschaft auf Basis dessen, was eben vorliegt. Und was vorliegt, das ist der Mensch, nicht als rationales Wesen, sondern als Ansammlung wandelnder »emotionaler Blobs auf zwei Beinen«, die vor allem seelische Grundbedürfnisse befriedigt haben möchten. Zwei der wichtigsten: Sicherheit und Zugehörigkeit. Deswegen nehmen gewisse Trends und Verhaltensweisen erst dann Fahrt auf, wenn wir uns durch sie nicht völlig aus allen sozialen Strukturen kegeln. Deswegen »hören« wir aber auch nicht, solange wir nicht »fühlen«, selbst wenn auf Verstandesebene schon lange alles klar sein dürfte. Recht zu Beginn ihres Buches erzählt Maren Urner dazu eine historische Anekdote. Ein etablierter, nicht als Gutmensch bekannter Wissenschaftler, warnt die Teilnehmenden einer Konferenz zum 100. Geburtstag der amerikanischen Ölindustrie davor, weiterhin fossile Brennstoffe zu verbrennen. Diese verursachten einen »Treibhauseffekt« und eine Polkappenschmelze. So predigt er zum absoluten Gegenteil der Bekehrten. Das Jahr? 1959. Der Mann? Edward Teller, Vater der Wasserstoffbombe. Die Konsequenz? Sehr lange Zeit absolut keine, sondern gar das Gegen- teil. Massive, bis heute andauernde Kampagnen, die das »immer weiter« im Vertrauten fördern. Die Karikatur eines Zeitreisenden, die Urner ins Buch einbaut, bringt es auf den Punkt: »I went back to warn them, but they already knew and didn’t seem to care.« Bekannt für Bestseller wie »Schluss mit dem täglichen Weltuntergang«, in denen Urner sich gegen die »Vermüllung« unserer Gehirne durch die Droge der Panik und der Angstlust wehrte, thematisiert sie auch hier die »gesunde Ausprägung« der Ignoranz, die für ein gedeihliches Leben nötig ist. Zugleich zeichnet sie ein klares Bild der un- gesunden Ignoranz-Variante aus »Normalitätssimulation und Realitätsverweigerung«, die uns offenen Auges in den Untergang laufen lässt wie die allegorische Menschheit in dem Film »Don’t Look Up«. Anders als der »konservative Bias« es erscheinen ließe, hinke die »wahrgenommene soziale Realität« (alle wollen mittlerweile die Welt retten und übertreiben es sogar dabei) der »tatsächlichen sozialen Realität« oft »um Jahrzehnte hinterher«. Echter Fortschritt würde erst möglich, wenn wir die scheinbaren Dichotomien von »Gefühl vs. Verstand« sowie von »privat vs. politisch« überwänden und endlich die Erkenntnis annähmen, dass wir weder »losgelöst von anderen Menschen« noch »von der Umwelt« existieren. Wenn wir uns als Spezies »radikal verbunden« fühlen. Fühlen, wohlbemerkt, nicht bloß denken. Maren Urners Verbundenheitsplädoyer öffnet unfreiwillig selber neue Gräben, lässt es doch kaum Raum für die Möglichkeit, dass Menschen aufrichtig am Erhalt der Welt interessiert, in der Sache aber anderer Meinung sein könnten. Das Hirn herausfordernd neue Richtungen nehmen lassend, bleibt es aber so oder so eine gewinnbringende Lektüre
Maren Urner
Radikal Emotional
Droemer • 288 Seiten
Oliver Uschmann