Literatur

12.02. | Buch der Woche

Liz Moore • Long Bright River

CHBeck

Liz Moore
Long Bright River
CH Beck - 414 Seiten

Im Namen der Schwester

Liz Moores neuer Roman ist halb Krimi und halb Familiendrama. Und nebenbei die Chronik eines Drogendesasters, das sich mitten durch die amerikanische Gesellschaft frisst.

Für Streifenpolizistin Mickey Fitzpatrick ist der Anblick einer Leiche nichts Ungewöhnliches. Ihr Revier liegt entlang der Kensington Avenue in Philadelphia und gilt manchen Quellen zufolge als Amerikas größter Open-Air-Drogenumschlagplatz. Das einstmals stolze Arbeiterquartier hat sich spätestens seit Mitte der 90er-Jahre in eine beklemmende Stadtwüste verwandelt, in der als Geschäftszweige hauptsächlich Rauschgifthandel, Straßenprostitution und die damit einhergehenden Kriminalitätsformen gedeihen. Fitzpatrick liebt das Viertel trotzdem auf eine stoische Art, schließlich stammt ihre Familie von hier, allesamt trinkfeste Iren, die ebenfalls wenig Respekt vor dem Gesetz haben. Die tote Frau im Gleisbett ist allerdings nicht an der ortsüblichen Heroinüberdosis gestorben, sondern Opfer eines Tötungsdelikts geworden – bereits das dritte in kurzer Zeit. Die Polizistin ist auch deshalb alarmiert, weil sie bereits seit Wochen nichts mehr von ihrer Schwester Kacey gehört hat. Die finanziert ihre Drogensucht ebenfalls auf der Kensington Avenue und ist lange nicht mehr an den einschlägigen Orten gesehen worden. Liz Moores neuer Hybridkrimi beginnt mit einem außerordentlichen Gespür für die Geographie eines Großstadtdschungels, der in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von umfangreichen Zeitungsartikeln und Filmdokumentationen geworden ist. Seit die Opioidkrise in den USA in weite Teile der Mittelschicht vorgedrungen ist, hat sich der Nordosten Philadelphias als Anlaufstelle für Süchtige aus dem ganzen Land etabliert, was inzwischen große Teile des Stadtbilds prägt. Dass hinter jeder Statistik tragische Einzelschicksale stecken, wird in „Long Bright River“ sehr schnell sehr plastisch. Die Kapitel des Buchs sind abwechselnd mit „Jetzt“ und „Damals“ überschrieben, zwei parallele Erzählstränge, die ihr jeweiliges Spannungspotenzial gegenseitig aufstocken. Das „Jetzt“ befasst sich dabei mit den Mordermittlungen, die von Mickey Fitzpatrick auf eigene Faust und auf unterster Polizeiebene angegangen werden. Das „Damals“ beleuchtet die Jugend der beiden Schwestern in einer dysfunktionalen Familienumgebung. Beide Elternteile sind ihrerseits drogenabhängig, die Erziehung der Mädchen größtenteils Sache einer gefühlskalten Großmutter. In der frühreifen Kacey weckt dieses emotionale Vakuum die Lust an Regelbrüchen und Gefahr, während sich Mickey ein Verantwortungsgefühl aufbürdet, von dem sie auch als Polizistin und Mutter nicht lassen kann. „Long Bright River“ ist dadurch auf gleich drei Ebenen glaubwürdig. Der Roman funktioniert sowohl als handfester Krimi, der wenig mit dem Uhrwerkschnurren heruntergerissener Serienware gemeinsam hat, als auch als fundierter Bericht über die Desintegration gewachsener Innenstadtviertel und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der wahre Punch landet allerdings in Form der komplexen Beziehung zwischen den Hauptfiguren. Philadelphia, die sprichwörtliche „Stadt der brüderlichen Liebe“ wird dort zum Symbol dafür, was eine Schwester für die andere zu tun bereit ist.

Markus Hockenbrink