Literatur

09.09. | Buch der Woche

Yoko Ogawa • Insel der vergessenen Erinnerungen

Liebeskind

YOKO OGAWA
Insel der vergessenen Erinnerungen
Liebeskind • 352 Seiten

Total Recall

In ihrem dystopischen Zeitlupenthriller folgt Yoko Ogawa einer nebulösen Traumlogik in den Abgrund. Die Zeitlosigkeit des bereits 1994 erschienenen Romans verblüfft.

Die Insel hat keinen Namen und offenbar auch keine geografischen Koordinaten, aber das Leben darauf kommt einem vertraut vor. Die Artikel des täglichen Gebrauchs existieren auch dort, gleiches gilt für die Infrastruktur und die Beziehungen zwischen den Menschen. Doch plötzlich schleicht sich ein seltsames Phänomen ein: Einzelne Dinge verschwinden flächendeckend und mit ihnen die Namen, die sie bezeichnen und die Erinnerungen daran. Erst handelt es sich um scheinbar unbedeutende Accessoires, aber mit der Zeit verschwinden ganze Gattungen von Lebewesen und sogar abstrakte Konzepte. Die Inselbewohner begegnen diesem Anheimfallen mit einer merkwürdigen Duldsamkeit und Passivität, schließlich gibt es offensichtlich sowieso nichts, was man gegen das große Vergessen tun könnte.

Schmerzlos ist es ohnehin auch, zumindest für die meisten: »Es ist nicht tragisch, wenn etwas in Vergessenheit gerät oder spurlos verschwindet. Nur diejenigen, die nicht loslassen können, müssen damit rechnen, in die Fänge der Erinnerungspolizei zu geraten.« Die Erinnerungspolizei hat es allerdings in sich. Sie ist eine gesichtslose und unerbittliche Behörde, irgendwo zwischen Kafka und Orwell, die Aufzeichnungen und Erinnerungsstützen vernichtet und Menschen verschleppt, die Verschwundenes sammeln oder ihm nachtrauern. Für die Heldin des Romans ist das besonders gefährlich, denn in ihrem Beruf als Schriftstellerin ist sie auf Genauigkeit im Ausdruck angewiesen.

In den Genres von Science Fiction und dystopischer Allegorie nimmt Yoko Ogawas Roman einen Platz zwischen den Stühlen ein. Mit realistischen Schilderungen totalitärer Unterdrückung kann die Autorin wenig anfangen, dafür vermittelt sich der Schrecken ihrer ergebnisoffenen Unheilsvision auf eine andere, instinktivere Art. Die Ohnmacht, die sich beim Lesen einstellt, gleicht jener, die man in Träumen erlebt, bringt aber immer wieder verschiedene Passagen aus dem kollektiven Bewusstsein des 20. Jahrhunderts zum Vorschein. Die Erinnerungspolizei erinnert sowohl an die Nazis und ihre Bücherverbrennungen als auch an die chinesischen Kulturrevolutionäre, die in der Vernichtung einen schöpferischen Akt erkennen wollten. Solch stringenter Analyse widersetzt sich die »Insel der vergessenen Erinnerungen« allerdings so vehement wie elegant. Ebenso gut möglich, dass man es hier mit dem Innenleben eines Demenzkranken zu tun hat, dem eine Armee der weißen Flecken die Erinnerung wegfrisst, bis nur noch die Begriffsstutzigkeit bleibt. Je vager die Geschichte verläuft, desto ominöser wirkt Ogawas Schreibstil, der in einfacher, märchenhaft anmutender Sprache auf einen Ozean der Leere zusteuert, in dem sich die Gedanken des Lesers zu verlieren drohen.

Am Ende steht dann wirklich alles auf dem Spiel. Die Beschaffenheit des menschlichen Geistes und seine Fähigkeit zur Sinnstiftung etwa, ohne die die gesamte Existenz infrage gestellt ist. »Ich fragte mich, was wäre, wenn eines Tages die Wörter verschwinden würden. Aber nur im Stillen. Weil etwas wahr werden kann, sobald man es laut ausspricht.«

Markus Hockenbrink