Literatur

08.06. | Buch der Woche

Stephan Abarbanell • 10 Uhr 50, Grunewald

Blessing

08.06. | Buch der Woche - Stephan Abarbanell • 10 Uhr 50, Grunewald

Wie in Stein gemeißelt

Menschenkunde, Gesellschaftsbild, Sprachkunstwerk – Stephan Abarbanells Roman über den 1922 ermordeten Außenminister der Weimarer Republik ist ein literarisches Ereignis.

Theoretisch sind es nur fünf Minuten, von denen der studierte Theologe, Rhetoriker und ausgewiesene Kenner deutsch-jüdischer Geschichte in diesem fein gebauten Roman erzählt. Die fünf Minuten, die Walther Rathenaus offener Wagen in Richtung Ministerium hinter sich bringt, bis Rechtsextreme den bedachten, feinsinnigen und vor allem jüdischen Außenminister erschießen. Seine Unterschrift unter einen Vertrag mit dem kommunistischen Russland stellt für die Nationalisten einen unverzeihlichen Vaterlandsverrat dar. „Noch in der Nacht“, so heißt es über den Vortag dieser verhängnisvollen Fahrt, „hatte er überlegt, den heutigen Termin im Amt abzusagen. Er war erschöpft, der gestrige Tag im Parlament hatte einer Hinrichtung geglichen. Karl Helfferich, Wortführer der rechten Opposition, wollte ihn im Plenum erneut aufs Schafott zerren.“ Der politischen Mordlust im Parlament folgte die physische auf der Straße. Auf zahlreichen Ebenen erzählt „10 Uhr 50, Grunewald“ eine Geschichte, die einerseits faszinierender Geschichtsunterricht ist und andererseits eine zeitlose Meditation über Themen wie gesellschaftliche Spaltung, Kampf um die eigene Identität, Vater-Sohn-Konflikte, die kaum zu erringende Balance zwischen Idealismus und Pragmatismus, Geist und Ökonomie sowie das Gift des Populismus, der mit grobem Geschrei alle Zwischentöne zerstört, mit denen Männer wie Rathenau konstruktive Politik zu machen versuchten. Haltungsstark und kritisch war dieser Minister und Sohn des Gründers von AEG, dessen Verhältnis zu seinem Vater ein wenig an das von Franz Kafka zu seinem übermächtigen Erzeuger erinnert, zugleich stets „ein Mann der wechselnden, oft kaum greifbaren Identitäten.“ Einer zudem, der trotz allem das Gute sehen will, an den Ausgleich glaubt und durchaus erschrocken ist, von seinem Fotografen und Inspirator Amos Roth vor dessen entschlossener Auswanderung nach Palästina zu hören: „Wir Juden sind selbst bei den Wohlmeinenden nicht sicher.“ Unglaublich faszinierend und ein regelrechter Lesegenuss ist, wie Abarbanell seine Charaktere im personalen Erzähler durch die Augen Rathenaus und die Sprachkunst seiner selbst beschreibt, äußerlich wie innerlich. „Der Fotograf setzte seine Mütze auf, nur noch Nase und Mund waren zu sehen, und der eine, leicht abgeschlagene Zahn, diese köstliche Störung.“ Binnen Sekunden entsteht ein Bild vor den Augen und die Wertung des Betrachters erzählt uns zugleich viel über ihn statt bloß über sein Objekt. Und auch für persönliche Empfindsamkeiten finden sich Sätze, deren Struktur man mit dem Daumen abfahren möchte, weil sie wie in Stein gemeißelt und noch dazu kathartisch sind. Etwa dann, wenn definiert wird, wann man wirklich und nicht bloß körperlich altert. „… eine aus den Tiefen kommende und an Tiefen rührende, fast kosmische Kraftlosigkeit, die Seele und Körper gleichermaßen erfasste und mit unsichtbaren Gewichten aus Blei zu behängen schien.“ Den literarischen Connaisseur allerdings erhebt dieser Roman, ob seines inhaltlichen Gehalts und seines ästhetischen Genusses.

Stephan Abarbanell
10 Uhr 50, Grunewald

Blessing, 256 Seiten

Oliver Uschmann