Literatur

06.01. | Buch der Woche

Elif Shafak • Schau mich an

kein & aber

Im Auge des Betrachters

Wo die Schönheit kultiviert wird, wird das Hässliche schnell zum Tabu. Elif Shafaks neuer Roman „Schau mich an“ wirft einen langen und amüsierten Blick in den Spiegel.

„Ich bewegte mich durch mein Leben als wäre es ein Porzellanladen, und trotzdem fielen um mich herum Gegenstände zu Boden und zersprangen in tausend Stücke, und alles nur wegen dieses Körpers.“ Die namenlose türkische Ich-Erzählerin fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Die Kinder in ihrem Kindergarten nennen sie eine Dickmadam, die Eltern der Schutzbefohlenen vertrauen ihr schon aufgrund ihres gemütlichen Körperumfangs. Im Supermarkt werden ihr die Probierhäppchen mit Freude angetragen, dafür muss sie im Sammeltaxi immer zwei Sitzplätze auf einmal bezahlen. Wer dick ist, so erkennt sie, fordert praktisch überall ein ungefragtes Urteil heraus, bei dem das Auge des Betrachters das Gehirn überstimmt und das Herz einen unwillkürlichen Sprung tut: Wenigstens bin ich nicht so dick wie die da, wenigstens kennt mein Körper Disziplin!

Nach tausendundeiner Diät fühlt sich die namenlose Ich-Erzählerin eigentlich nur noch in den eigenen vier Wänden wohl, an der Seite ihres kleinwüchsigen Liebhabers, der an einem „Lexikon der Blicke“ arbeitet. Darin geht es anekdotisch um all die kulturübergreifenden Begriffe, Märchen und Sprichworte, die um das Thema Sehen und Gesehenwerden kreisen und in der Frage münden: Wenn Schönheit ein Versprechen von Glück ist, was hat es dann mit dem Gegenteil auf sich?

In einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft, in der insbesondere der weibliche Körper dermaßen objektiviert wird, dass die Öffentlichkeit Frauen mit einem gesunden Body Mass Index gern als „mutig“ beschreibt, ist die mittelalterlich wirkende Welt von Elif Shafaks neuem Roman nicht weit. „Schau mich an“ geht von seinem Schauplatz im Istanbul von 1999 zurück nach Frankreich im 19. und nach Sibirien im 17. Jahrhundert und erkundet dabei orientalisch anmutende Konzepte von Schönheit, Gier und Macht. Unterwegs begegnen die Leser unter anderem einem einer selbst ausgedachten Sage entsprungenen Herrscher namens Keramet Mumi Keske Memis Efendi, der es sich in den Sinn gesetzt hat, in einem kirschroten Zelt ein menschliches Kuriositätenkabinett mit den schönsten und den hässlichsten Exponaten ihrer Art aufzubauen. Dieser und andere Teile der Geschichte werden von mythologisch anmutenden Anekdoten gerahmt, die einer unausweichlichen Traumlogik folgen und dabei die Wucht und die Gewalttätigkeit religiöser Texte heraufbeschwören. Festen Boden hat man in diesem Buch nur selten unter den Füßen, doch Shafaks poetische Wortwahl trifft dort, wohin sonst nur selten gezielt wird.

Tatsächlich ist ihre Bildsprache dermaßen raumgreifend, dass Realität und Fantasie immer wieder in einem Rausch der Beschreibungen verschwimmen, in dem das Lesen seine Linearität verliert und einer Meditation zu ähneln beginnt. Das kann sich überbordend anfühlen, mäandernd und stellenweise anstrengend, vibriert andererseits aber auch mit einer Lebendigkeit, die an den ersten Urlaubstag in einem halb geträumten Land erinnert. Wo sonst gibt es Friseursalons, in denen Haartönungen Namen wie „Was der Kamin alles weiß“ und „Abschied vom Zug bei Sonnenuntergang“ tragen?

Elif Shafak
Schau mich an

kein & aber, 400 Seiten, 24 Euro

Markus Hockenbrink