Literatur

05.04. | Buch der Woche

Thorsten Pilz • Weite Sicht

Lübbe

05.04. | Buch der Woche - Thorsten Pilz • Weite Sicht

Vier Frauen, Vier Leben

Thorsten Pilz schreibt in seinem Debütroman »Weite Sicht« klug und einfühlsam über Menschen, die bei sich ankommen. Und beweist dabei sein Gespür für das Besondere im Normalen.

Thorsten Pilz, wie sah die erste Idee rund um Ihr Buch aus?
Die kam mir nach einem Abend mit Freunden. Wir sprachen über unsere Eltern, manche schon tot, andere kränkelnd, wieder andere noch fit. Und wir fragten uns, wie wir leben wollen, wenn wir älter sind. Immer wieder dachte ich nach diesem Abend über das Thema nach, bis sich nach und nach eine Geschichte daraus ergab.

»Weite Sicht« ist allein Frauen gewidmet und auch die vier Protagonistinnen sind allesamt weiblich. Weshalb?
Für mich war schnell klar, dass diese Geschichte von Frauen handeln muss. Von Frauen, die im Laufe ihres Lebens schon viel erlebt haben, die aber jetzt nochmal, aus unterschiedlichen Gründen, gezwungen werden, dieses zu überdenken. Ich habe festgestellt, dass viele Frauen im Alter oft neugieriger sind, interessierter, agiler als Männer. Aber das ist reine Privatempirie und nicht das Ergebnis einer großen Studie.

Ihre Protagonistinnen Charlotte, Gesine, Sabine und Bente sind sehr unterschiedlich. Was eint sie?
Der klare Blick aufs Leben. Irgendwann kommt jede an einen Punkt, an dem das Leben, so wie sie es bisher geführt haben, nicht mehr funktioniert. Das ist vielleicht ein Schock, eine Erkenntnis voller Schmerz. Aber eine solche Zäsur be-deutet eben auch noch etwas anderes. Und dieses »Andere«, »Ungewohnte«, auch »Unbequeme« zu erkennen und zu ler-nen, damit zu leben, eint die vier.

Weite Teile des Romans spielen in Hamburg, wo Sie auch selbst leben. Ein weiterer Teil in Dänemark, wo eine der Protagonistinnen herkommt. Warum Dänemark?
In den 1970er-Jahren verbrachten wir regelmäßig unseren Sommerurlaub an der jütländischen Westküste, mit Pølser, Softeis und unendlich scheinenden Sandstränden. Die pure Idylle. Und auch wenn sich mein Blick im Laufe der Jahre etwas entromantisiert hat, trage ich bestimmte Dinge immer in meinem Herzen: das Licht in Skagen, dort, wo Nord- und Ostsee zusammenfließen, die laute Entspanntheit in den Bars von Kopenhagen, den Sonnenuntergang an der West-küste Bornholms und das Strandbad in Klampenborg, das auch in dem Roman vorkommt. Pølser und Softeis esse ich übrigens immer noch gerne.

Welche Inspirationsquelle gab es noch? Die Geschichte spielt in der Gegenwart, macht aber auch immer wieder Sprünge in die 1960er- und 1970er-Jahre in Hamburg. Ich habe mir viele Dokus angesehen, mich im Zeitungsarchiv vergraben, habe historische Dokumente über die verheerende Sturmflut des Jahres 1962 gelesen. Daneben, und das war ein schöner Kontrast, las ich mich durch die wunderbaren Geschichten Karen Blixens.

Auf dem Cover ist viel Wasser zu sehen. Welche Rolle spielt das Wasser beziehungsweise das Meer?
Das Wasser, die See, das Meer sind Sehnsuchtsorte, für Charlotte besonders, aber für die anderen drei Frauen auch. Es sind Projektionsflächen für das eigene Leben. Am Meer spürt Charlotte Freiheit, Selbstbestimmtheit, aber auch den archaischen Kampf mit den Elementen und die möglicher-weise daraus resultierende Gefahr.

Was kann man aus Ihrem Buch fürs Leben mitnehmen?
Ich glaube, man kann diese Geschichte auf viele Weisen lesen. Vor allem ist es ein Buch über die Kraft von Ver-änderung, den Mut zur Entscheidung. Egal, wie alt man ist. Ein Buch über Freundschaft und Verzeihen. Es ist aber auch eines über das Geschichtenerzählen. Geschichten, die uns ein Leben lang begleitet haben, die uns prägten. Aber auch solche, die wir uns noch gerne erzählen wollen, weil sie von anderen Dingen handeln als denen, die wir bereits kennen.


Thorsten Pilz
Weite Sicht

Hardcover 286 Seiten, 22,00 €

Oft ist es anders als man denkt. Das gilt nicht nur für Gerüchte oder die überraschende Wendung im Krimi, sondern auch das eigene Leben. So hat Charlotte nach dem Tod ihres Mannes nicht die geringste Ahnung, dass die Testamentsverkündung ein Geheimnis für sie bereithält, welches die Festen ihres Lebens nachhaltig erschüttern und gleichzeitig den Mut für einen Neuanfang heraufbeschwören wird. In »Weite Sicht« verwebt Thorsten Pilz die Schicksale vier gänzlich verschiedener Frauen, die sich lange Zeit davor scheuten, die fundamentalen Fragen zu stellen und sich auf die Suche nach Antworten darauf zu begeben. Der Zauber dieses emotionalen Romans entfaltet sich auch zwischen den Zeilen:Durch die aufmerksamen Schilderungen, die fa-cettenreichen Charaktere und die tiefgründigen Dialoge wird man als Leser zum Eingeweihten, der sich auf alles, was ungesagt bleibt, seinen eigenen Reim machen darf und am Ende die Erkenntnis gewinnt: Solange man lebt, ist es für nichts jemals zu spät. Egal, wie alt man ist.

Katharina Raskob