Literatur

04.06. | Buch der Woche

Philipp Blom • Das große Welttheater

Philipp Blom
Das große Welttheater
Zsolnay, 128 Seiten

Zeit für neue Geschichten

In seinem Essay „Das große Welttheater“ attestiert der Autor Philipp Blom den westlichen Gesellschaften einen erschreckenden Mangel an Phantasie in Krisenzeiten.

Die Menschen in der niederländischen Stadt Delfshaven bei Rotterdam müssen große Augen gemacht haben. Auf einmal türmte sich vor ihrer Küste ein gewaltiger Eisberg. Das kannten sie so nicht. Und die wenigsten hätten sich träumen lassen, dass der weiße Koloss bloß der Vorbote eines drastischen Klimawandels sein würde. Genannt: die Kleine Eiszeit. Sie hat im Europa des 16. Jahrhunderts zu katastrophalen Ernten, Hungersnöten, Epidemien und sozialen Unruhen geführt. Die Getreidepreise explodierten, und wenn man Berichten von damals Glauben schenken darf, fielen sogar erfrorene Vögel vom Himmel. Und was taten die Leute? Als Kinder ihrer Zeit hielten sie den Temperatursturz für eine Strafe Gottes und fingen an, sich selbst zu geißeln oder Frauen als Hexen zu verbrennen. Nicht so schlau.

Die Frage, die der studierte Philosoph Philipp Blom in seinem Essay „Das große Welttheater“ aufwirft, lautet allerdings zu Recht: Stellen wir uns heute so viel klüger an? Es sind ja wieder Krisenzeiten – und von Corona ist dabei noch gar keine Rede. Die nächste Klimakatastrophe steht nicht etwa bevor, wir sind schon mittendrin. Aber statt unseren ruinösen Lifestyle zu überdenken, krähen wir nach mehr Wirtschaftswachstum. Blom attestiert dem modernen Menschen eine Zoo-Existenz: medizinisch versorgt, faul und verfettet, und „manchmal setzt die Verwaltung sogar ein paarungswilliges Weibchen ins Gehege“ (da wüsste man allerdings gern, wer in diesem Bild die Verwaltung ist).

Für solch eine Diagnose allein bräuchte es freilich keinen 120-seitigen Aufsatz. Entsprechend belässt es Blom nicht bei misanthropischen Betrachtungen der Gegenwart. Sondern versucht, seine Zeitgenossen auf eine wachere Zukunftsphantasie einzuschwören. Neuen Herausforderungen mit alten Bildern zu begegnen – das hat schon bei der Kleinen Eiszeit nicht funktioniert. Auch damals besserten sich die Verhältnisse erst, als Wissenschaftler begannen, nach kälteresistenten Getreidesorten zu forschen und die Märkte sich internationalisierten.

Weil Blom bei all dem die Welt als Bühne denkt – angestoßen wurde sein Essay durch die Salzburger Festspiele – beschwört er die Kraft von Geschichten, die erst die Verbindung schaffen zwischen Verstand und Gefühl. Immer wieder kehrt er zurück auf das schöne Bild eines Papiertheaters, das sein früh verstorbener Großonkel gebastelt hatte – und das zum Schauplatz für die wildesten Imaginationen werden konnte. Die alten Muster über den Haufen zu werfen, dazu rufen gegenwärtig viele Bücher auf, von Harald Welzers „Alles könnte anders sein“ bis zu Maja Göpels „Unsere Welt neu denken“. Im Gegensatz zu diesen Autoren geht es Blom weniger um praktische Anleitungen zum bewussteren Leben. Er möchte vielmehr eine Entrümpelung im Kopf anregen, wo der Ideen-Fundus verstaubt. Vergleichbar mit den Wildwest-Kulissen im Papiertheater des Großonkels, wo Cowboys edel und Indianer böse waren. Um der Krise begegnen zu können, so Blom, braucht es „neue Figuren und Geschichten, die eine neue Wirklichkeit beschreiben“ – anschlussfähig für alle.

Patrick Wildermann