Musik

03.09. | Album der Woche

Drangsal • Exit Strategy

Caroline

Der Menschenflüsterer

„Selbst eine Perücke und ein angeklebter Schnurrbart machen mir schon Spaß“, sagt Drangsal. Weil man sich aber leider nur äußerlich verkleiden kann, handelt sein neues Album „Exit Strategy“ von dem Bedürfnis, man selbst und gleichzeitig jemand völlig anderes sein zu wollen. Zumindest musikalisch gelingt das Kunststück.

„Musik“, sagt Drangsal, „ist einerseits ein so hohes Gut und andererseits nichts wert.“ Zumindest rein monetär, und zumindest in den meisten Fällen. In einem Paralleluniversum würde der Sänger deshalb vielleicht „etwas Vernünftiges, etwas Gescheites, etwas Handfestes“ machen, die Exit-Strategie des Künstlers gewissermaßen. Dann wiederum hat der Mann mit den eigenwilligen Tattoos schon recht früh gemerkt, dass er feiner fühlt als all diejenigen, denen als letzter Ausweg nur die Fremdenlegion bleibt. „Früher war es bei mir immer so, wenn ich lange stillsitzen musste, beim Frisör oder in der Sparkasse bei der Kontoeröffnung, dann hatte ich immer so ein wohliges Gefühl der Entspannung“, erzählt er. „Dieses Gefühl ist wohl allgemein bekannt, das haben viele Leute. Zum Beispiel beim Flüstern, oder wenn man beim Basteln leise mit dem Papier knistert. Deswegen erfreuen sich diese Handwerkskunstvideos größter Beliebtheit. Auf YouTube gibt es ein eigenes Genre dafür: ASMR, wo die Leute dann ganz leise angenehme Geräusche machen.“ ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response, frei übersetzt also für das wohlige Kribbeln, das einen angesichts gewisser Reize überkommt. Und wenn man Drangsal ein Kompliment machen will, muss man ihm nur sagen, dass auch er ASMR auslösen kann, und nicht einmal auf der taktilen Ebene.

Da wäre zum einen die sanft-gebieterische Stimme, nicht unähnlich der von Placebos Brian Molko und ebenfalls in den unterschiedlichsten Tonlagen zuhause. Da wären vor anderen die optischen Signale, die der scheinbar zwischen den Geschlechtern stehende Sänger aussendet. Im Video zur programmatischen Single „Mädchen sind die schönsten Jungs“ präsentiert Drangsal eine androgyne Körperästhetik in fantastischen Outfits, bei deren Betrachtung sich auch der Zuschauer lustvoll befreit fühlt. Laut Künstler ein Nebeneffekt. „Ich empfinde das nie als mutig, diese ganzen Outfits“, sagt er. „Ich ziehe das an, weil’s mir gefällt. Ich finde es geil, mich zu verkleiden, ich finde es geil, mich zurechtzumachen. Ich mag Performance einfach so gerne. Ich mag ungewöhnliche Outfits. Ich mag es, mich zu schminken und mir die Fingernägel zu lackieren. Sich selber in eine neue Form zu gießen. Das hat aber nicht zwangsläufig damit zu tun, dass ich irgendeine Botschaft senden will. Außer, dass es okay ist.“ Und vielleicht das noch: „Wenn ich den Leuten das Gefühl geben kann, zu sein wie man Lust hat, ohne irgendwelche Repressalien zu fürchten und auf irgendwelche Codes, die es ja sowieso nicht gibt, zu scheißen, wäre das schön.“ Weil Drangsal aber eben nicht nur der Mann ist, der demnächst mit einer Teufelsmaske aus Latex auf der Bühne stehen wird, um dem Publikum „auf KISS-Basis“ etwas anzubieten, schwingt auf seinem neuen Album „Exit Strategy“ bei allem Triumph auch eine ewige Zerrissenheit mit.

„Ich weiß doch gar nicht, wer ich bin“ heißt es gleich im ersten Stück, bei „Du bist schöner als ich“ klingt das Gegenteil an, wird ein trotziges Selbstbewusstsein ausgestellt: „Ich bin so wie ich bin. Besser du nimmst mich so hin, denn anders wird es mich nicht geben.“ Drangsal muss kichern, wenn man ihn mit seiner eigenen Zeile konfrontiert. „’Du musst mich so nehmen wie ich bin’ ist ja auch die beste Ausrede für: Ich hab keine Lust mich zu verändern“, sagt er, der in seinem Leben halt schon Verschiedenes war. Die Diva und der Duldsame. Der Typ, der in Jogginghosen auf der Bühne steht, und der, der sich in seinen Musikvideos mit meterlangen Lederstiefeln präsentiert. Der, der das Vage und das Unsichere thematisiert, bis es zu einem ganzen Album reicht. In solchen Momenten ist der Sänger dann doch ganz froh, dass er die Kunst als Metier gewählt hat und nicht den Eisenwarenhandel. Mit dem sogenannten Hochstapler-Syndrom, das viele Künstler ohne „Gescheites und Handfestes“ befällt, hat Drangsal inzwischen auch seinen Frieden gemacht. „Ich habe das Gefühl, jeder hat irgendwie etwas zu sagen. Oder kann auf eine Art etwas sagen“, meint er und überlegt eine Sekunde. „Ich weiß nicht, ob ich etwas zu sagen habe. Aber ich sag’s trotzdem. Und das ist der große Unterschied.“

DRANGSAL
Exit Strategy
Caroline, 27. August

Manche Leute haben nie etwas Passendes anzuziehen, Drangsal hat dasselbe Gefühl weiter innen. „Scheint, als würde ich mich niemals an mich selber gewöhnen“, singt er in einem Moment, „ich wünschte ich wäre nie geboren“ im nächsten. Das liest sich auf dem Papier aber pessimistischer als es ist. Die glamouröse Schizophrenie von „Exit Strategy“ spielt mit dem Spiegelbild, spielt mit der Authentizität, spielt mit der Unersättlichkeit der fortgeschrittenen Jugend. Das neue Album klingt wie der Grufti, der nachts an der Katholischen Öffentlichen Bücherei ins Schaufenster guckt. Es klingt wie The Cure und Morrissey und Farin Urlaub und einmal kurz wie Die Prinzen. Einerseits scheint Drangsal in seinen Texten die ganze Menschheit zu meinen. Andererseits meint er vielleicht auch nur die, die stellvertretend für uns auf dem Mond spaziert sind.


Foto: Max vom Hofe

Markus Hockenbrink