Literatur

03.05. | Hörbuch der Woche

Robert Seethaler • Das Café ohne Namen

Hörbuch Hamburg Verlag

03.05. | Hörbuch der Woche  - Robert Seethaler • Das Café ohne Namen

Robert Seethaler
Das Café ohne Namen

gelesen von Matthias Brandt
Hörbuch Hamburg, 6 Std. 30 Min.


Wiener Melancholie

Robert Seethaler versammelt in »Das Café ohne Namen« Menschen des Proletariats im Wien der Nachkriegszeit. Matthias Brandt haucht ihnen mit seiner Stimme eine Seele ein.

Thomas Bernhard hätte sich in Robert­ Seethalers neuem Roman »Das Café ohne Name« vermutlich wohlgefühlt. Pflegte er doch zeitlebens eine Hassliebe zu den berühmten Wiener Kaffeehäusern. Die sogenannte »Kaffeehausaufsuchkrankheit« trieb ihn täglich an diesen verhassten Ort. Unter der Manie dieser für ihn unheilbaren Krankheit hätte er am meisten gelitten, bekannte Bernhard einmal in seinem autobiografischen Werk »Wittgensteins Neffe«. Der Grund für seine Aversion liegt wohl darin begründet, dass er in den Kaffeehäusern auf viele Schriftstellerkollegen traf, die er nicht ausstehen konnte. Derlei Klientel sucht man vergebens im »Café ohne Namen«, unweit des Karmelitermarktes in der Leopoldstadt, dem zweiten Gemeindebezirk Wiens, bekannt für sein Vergnügungsviertel mit dem Prater und seinem Riesenrad. Seethaler, der zu den erfolgreichsten österreichischen Schriftstellern der Gegenwart gehört, erzählt von den Malochern­ des Marktes, den Abgehängten und hoffnungslosen Träumern aus der Arbeiterklasse der Wiener Nachkriegszeit. Es ist 1966. Im Zentrum der Geschichte steht Robert Simon, der als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt­ ein zufriedenes, wenn auch bescheidenes Dasein fristet. Doch so, wie die Stadt sich zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erneuert hat, keimt auch in ihm das Bestreben nach einer besseren Zukunft auf. Mit Anfang dreißig wagt er den Schritt in die Selbstständigkeit und pachtet eine verwaiste Gastwirtschaft. Sein Traum vom eigenen Café wird Wirklichkeit. Das Angebot ist mager: Kaltes Bier, saubere Gläser und eine richtige Kaffeemaschine. Mehr braucht es nicht, denkt Simon. Noch nicht einmal zu einem Namen kann er sich durchringen. Doch den Menschen, die aus dem Viertel in das Lokal kommen, ist das nicht wichtig. Wie ein symbiotischer­ Organismus bringen sie ihre Geschichten mit, die das Schicksalsrad des Lebens ihnen bereitet. Sie zeugen von Sehnsucht, unverhofften Glücksmomenten und dem Tod. Sie kommen, um allein sein zu wollen, brauchen dazu jedoch Gesellschaft. Sie knüpfen neue Freundschaften, es kommt zu Zerwürfnissen und manche hoffen sogar auf die Liebe. Und so, wie die Stadt im Wandel der Zeit voranschreitet, gilt dies auch für Simons eigenes Leben. Seethaler beschreibt die Fragmente aus den Biografien seiner Charaktere in seinem unverwechselbaren Tonfall: unprätentiös, klar und tiefgründig. Mit viel Liebe zum Detail erblühen so die Lebensskizzen der Figuren zu einem eindrucksvollen Erzählkosmos. Es ist ein Glücksfall, dass für die Hörbuchfassung mit Matthias Brandt einer der vielseitigsten Charakterdarsteller im deutschsprachigen Raum gewonnen werden konnte. Behutsam tastet sich Brandt in den Roman hinein und haucht mit seiner nuancierten Stimme den Figuren eine Seele ein. Etwa wenn er mit pointiert stoischer Klangfarbe die Einfältigkeit des Ringkämpfers und Sozialisten René Wurm zum Leben erweckt, der einen Kampf auf dem Heumarkt wegen der Liebe verloren glaubt. Ein kurzweiliges Hörerlebnis fernab Wiener Kaffeehausbanalitäten.

Björn Eenboom