Kino

02.06. | Kinotipp der Woche

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Auf der Suche nach sich selbst

In seinem neuen, mehrfach Oscar-nominierten Film „Der schlimmste Mensch der Welt“ erzählt der norwegische Regisseur Joachim Trier davon, dass das Erwachsenwerden manchmal erst mit 30 beginnt. Und setzt dabei mit Renate Reinsve auf eine junge Hauptdarstellerin, die das Zeug zum Weltstar mitbringt.

Joachim Trier, wären Sie böse, wenn ich sage: Die Themen, die in „Der schlimmste Mensch der Welt“ verhandelt werden, sind eigentlich Allerweltsprobleme?
Nein, denn genau das macht sie ja so interessant. Wo will ich hin im Leben, mit wem will ich zusammen sein, wo finde ich mein Glück und meine Liebe – das sind sicherlich für viele Menschen nicht die einzigen Sorgen im Leben, aber doch sehr essenzielle, die man überall kennt. Im Grunde stellen sie nichts anderes als den Prozess des Erwachsenwerdens dar. Früher hätte man eine Geschichte wie diese vermutlich mit einem Teenager erzählt. Aber ich habe das Gefühl, dass heutzutage viele Menschen diese Coming-of-Age-Erfahrungen erst in ihren 30ern durchmachen.

Sie haben sich für eine Protagonistin entschieden. Erleben Männer und Frauen diese Dinge auf ähnliche Weise?
Ich finde das fürchterlich schwer zu verallgemeinern und will den Film auch nicht als Statement über eine Generation verstanden wissen. Aber sicherlich gibt es viele Fragen, vor denen Männer wie Frauen stehen. Julie packt das Gefühl, der schlechteste Mensch der Welt zu sein, weil sie an einem der privilegiertesten Orte der Welt groß geworden ist, wo ihr eigentlich alle Möglichkeiten offenstehen und sie diese trotzdem irgendwie nicht nutzt. Inklusive der Tatsache, dass sie noch kein Kind hat oder will. Und zumindest letzteres ist vielleicht eine an sie herangetragene Erwartung, vor der Frauen eher stehen als Männer.

Der Film steht und fällt mit seiner Hauptdarstellerin Renate Reinsve, einer echten Entdeckung.
Die ich allerdings schon eine Weile kannte. Sie spielte eine kleine Rolle in meinem Film „Oslo, 31. August“. Damals hatte sie eigentlich nur einen Satz, aber weil ich besessen davon war, das perfekte Licht in Oslo einzufangen, drehten wir an der Szene neun Tage. Seither wollte ich wieder mit Renate arbeiten, aber sie spielte vor allem Theater. Bis ich ihr „Der schlimmste Mensch der Welt“ auf den Leib schneiderte.

Was macht sie zur idealen Hauptdarstellerin?
Diese Frage beantwortet sich von selbst, wenn man den Film sieht, finde ich. Sie ist einfach umwerfend, und ich bin wirklich stolz darauf, was sie in der Rolle leistet. Für diese seltsame Version einer romantischen Komödie kam niemand anderes in Frage, weil sie in ihrem Spiel problemlos das Dramatische mit Humor und Leichtigkeit verbindet. Und sie bringt eine ungewöhnliche Körperlichkeit mit. Von ihrem Gesicht über ihren Körper bis hin zum Raum um sie herum bleibt nichts für ihr Spiel ungenutzt.

Hat sie selbst zur Ausgestaltung der Figur beigetragen?
Das hat sie tatsächlich, allerdings nicht nur, weil mein Co-Autor und ich keine jungen Frauen sind. Vielmehr arbeite ich mit meinen Schauspielerinnen und Schauspielern grundsätzlich auf diese Weise zusammen. Es gibt zunächst eine Drehbuchfassung und eine grobe Zielvorgabe, aber wirklich ausgearbeitet werden die Figuren und Szenen dann gemeinsam mit dem Cast in einer langen Probephase. Renate hatte viele Ideen zu ihrer Rolle, was ich sehr begrüßt habe. Denn so selbstbewusst die Vision für meine Filme ist, so sehr hatte ich auch die Sorge, als Mann bei einer weiblichen Protagonistin vielleicht doch in Klischeefallen zu tappen. Gerade was die Sexszenen, weibliche Lust und auch die Macken der Figur angeht, hatte Renate großen Einfluss auf das Drehbuch und die Umsetzung.

Kann der Film auch als romantische Komödie gesehen werden?
Definitiv. Die Screwball-Komödien von Regisseuren wie George Cukor haben mich sehr beeinflusst. Natürlich nicht mit Blick darauf, dass Katherine Hepburn in „Die Nacht vor der Hochzeit“ mit der Entscheidung zwischen zwei Männern auch darüber entscheidet, welches Leben sie führen wird. Der Gedanke, dass eine Frau im Leben überhaupt einen Mann braucht, ist schließlich fürchterlich altmodisch. Aber dass sie sich durch die Begegnung mit potenziellen Partnern darüber klar wird, wer sie eigentlich ist und was sie will, das macht „Die Nacht vor der Hochzeit“ zu einem existentialistischen Film – und zu einem Verwandten von „Der schlimmste Mensch der Welt“.


Der schlimmste Mensch der Welt

  1. Juni, 2 Std. 8 Min.

Julie wird bald 30 und weiß noch nicht so recht, wohin im Leben. Welcher Job ist der passende? Ist ihr etwas älterer Freund Aksel (stark: Anders Danielsen Lie) wirklich der richtige – oder doch eher Zufallsbekanntschaft Eivind (Herbert Nordrum)? Und will sie überhaupt eine Familie gründen? All diese Probleme erscheinen zunächst arg gewöhnlich und auf weiße Wohlstands-Millenials zugeschnitten, doch Joachim Trier erzählt von ihnen zwölf Kapitel lang mit einer leichtfüßigen Authentizität, die keine Selbstverständlichkeit ist. Und die in Cannes ausgezeichnete Hauptdarstellerin Renate Reinsve entpuppt sich in dieser Tragikomödie, die in ihrem Verlauf immer mehr emotionale Tiefe gewinnt, als echtes Ereignis. Man kann nur hoffen, dass ihr – und uns! – künftig noch viele ähnlich smarte Rollen vergönnt sein werden.

Patrick Heidmann