Literatur

01.07. | Buch der Woche

Jessie Greengrass • Was wir voneinander wissen

Kiepenheuer & Witsch

Jessie Greengrass

Was wir voneinander wissen

Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten

Und wenn es falsch ist?

Man kann es nie vorher wissen. Aber man will es doch kontrollieren. In ihrem Debütroman schildert Jessie Greengrass die zahlreichen Dilemmata der Entscheidungsfindung.

Ja oder nein? »Jede Entscheidung, die du triffst, ist die richtige«, sagt Johannes und küsst sie auf die Wange. Dann ist sie allein, eine Woche lang, verbringt ihre Tage und Nächte in einem winzigen Cottage, und alle Gedanken kreisen um die Frage, ob sie sich für oder gegen ein Kind entscheiden soll. Will ich das? Will ich es jetzt?

Einerseits überfällt sie sofort starke Sehnsucht, sobald sie eine Mutter mit einem Säugling im Arm sieht, andererseits fürchtet sie, sie würde es nicht schaffen, jemals eine so komplexe Liebe zu empfinden, wie es Mütter für ihre Kinder tun sollten. Immer mehr und doch nie genug. Das Leben und seine Wegkreuzungen. Wohin gehen? Und was, wenn ich mich falsch entscheide? Hätte ich die Konsequenzen abschätzen können?

Menschen haben ein ureigenes Kontroll- und Kompetenzbedürfnis. So auch die Ich-Erzählerin, eine junge Frau, die in Jessie Greengrass´ » Was wir voneinander wissen « – nach hochgelobten Erzählungen ihr erster Roman – mit der Angst umgehen muss, nicht alles im Griff zu haben. Die Londoner Autorin führt uns mitten hinein in das manchmal atemlose und immer verbissene Ringen einer jungen Frau auf der Suche nach den richtigen Erkenntnissen, um gegen jeden Irrtum resistent zu sein. »Die Entscheidung liegt bei dir« – so wird es einem in Ratgebern und von Coaches zugerufen. Maximale Freiheit, die verlockend klingen mag.

Niemand aber lebt kontextfrei. Wir sind situativ gebundene soziale Wesen, und das bedeutet, dass immer ein Einfluss da ist, immer schon da war. In ihrem Suchen erhofft sich die Protagonistin daher Erhellung, indem sie die Leben ihrer bereits verstorbenen Mutter und ihrer Großmutter, einer einstigen Psychoanalytikerin, durchforstet. Was können wir lernen von den Vorangegangenen? Und erleichtert das die eigene Entscheidung? Antworten sucht die Ich-Erzählerin auch bei großen Persönlichkeiten der Medizingeschichte, und zwar als diese selbst an entscheidenden Wendepunkten in ihren Leben standen: Sigmund und Anna Freud und ihre Entwicklung der Psychoanalyse, John Hunter, der die Anatomie erforschte und Wilhelm Conrad Röntgen mit seiner Entdeckung der X-Strahlen. Wer sich entscheiden will, will einen inneren Gedankenprozess zum Abschluss, den ständigen Aufruf zur Entscheidung zum Verstummen bringen. Allein: es eröffnen sich immer wieder neue Fragen. Gerade für den, der gewohnt ist, Gedanken zu sezieren und aus verschiedenen Perspektiven auf eine Situation zu blicken. Jessie Greengrass, Jahrgang 1982, ist studierte Philosophin. Und das ist, neben einer hervorragend komponierten Geschichte und einer fesselnden Sprache, der große Gewinn bei diesem Leseerlebnis, aus dem man nur widerwillig wieder auftaucht. Ohne verkopfttheoretisch zu sein, führt die Autorin in menschliche Tiefen, wie es nur die Philosophie kann.

FAZIT:

Von morgens bis abends müssen wir Entscheidungen treffen. Und dann und wann stehen wir vor den großen Entscheidungen unseres Lebens. Mit wie vielen Zweifeln das verbunden ist, zeigt Jessie Greengrass in ihrem äußerst gelungenen Debütroman. Ihre Sprache und die Gedanken der Ich-Erzählerin sind so fesselnd, dass man sich ihr weder entziehen kann noch will.

Sylvie-Sophie Schindler