Prof. Dr. Thomas Meyer
„Wir stehen am Beginn einer neuen therapeutischen Ära.“
Zur Person
Thomas Meyer, geboren 1967 in Ost-Berlin, spezialisierte sich nach seinem Medizinstudium an der Humboldt-Universität zum Facharzt für Neurologie und gilt als einer der führenden ALS-Spezialisten weltweit. Bereits im Rahmen seines Studiums beschäftigte er sich intensiv mit molekulargenetischen Fragestellungen zur Amyotrophen Lateralsklerose, die er sowohl an der Mount Sinai Medical School in New York als auch während seiner Zeit am Universitätsklinikum Ulm (1997-2001) vertiefen konnte, wo er erstmals auch diagnostisch tätig war. Nach seiner Habilitation kehrte Meyer 2002 nach Berlin zurück und baute an der Charité die ALS-Ambulanz auf, die er bis heute leitet. 2011 gründete er das Versorgungsnetzwerk Ambulanzpartner, um die spezialisierte Behandlung der Betroffenen zu verbessern. Von 2003 bis heute wurden unter Meyers Leitung mehr als zwanzig klinische Studien in Kooperation mit der forschenden Arzneimittelindustrie, anderen Universitätskliniken oder durch eigene Initiative realisiert. Thomas Meyer lebt in Berlin.
22. Januar 2024, Berlin. Prof. Dr. Thomas Meyer hat einen langen Arbeitstag an der Charité hinter sich und für die Fotosession zwei unscheinbare blaue Hemden mitgebracht, „aber in verschiedenem Blau.“ Am Ende wird es – ebenso unprätentiös wie die uns umgebende Klinik-Architektur – der Arztkittel. Auf dem Gebiet der ALS ist Meyer gemeinsam mit einer Handvoll internationaler Ärzte und Wissenschaftler so etwas wie ein Star, ansonsten führt der Mediziner ein Dasein abseits jeden Glamours. Dedicated, but under the radar. Den meisten Menschen fällt beim Thema Amyotrophe Lateralsklerose im Höchstfall noch die Ice Bucket Challenge aus dem Sommer 2014 ein. Oder das an seinen Rollstuhl gefesselte Astrophysik-Superhirn Stephen Hawking. Das war’s in aller Regel. Nun jedoch stehen das rätselhafte, früher oder später stets tödlich verlaufende Nervenleiden und dessen Erforschung gewissermaßen an einer Zeitenwende. Versuchsreihen mit neuartigen genetischen Medikamenten geben zumindest berechtigten Anlass zur Hoffnung auf Heilung in nicht allzu weiter Ferne. Auch für mich, denn ich bin vor einem Jahr selbst an ALS erkrankt.
Prof. Dr. Meyer – uns beiden ist bewusst, dass diese Situation eine ziemlich besondere ist: Sie sind nicht nur mein Interviewpartner, sondern vor allem auch mein behandelnder Arzt.
Das ist in der Tat außergewöhnlich, ja. Die Besonderheit besteht darin, dass in der ärztlichen Rolle eine gewisse Distanz bewahrt werden muss, um handlungsfähig zu sein. Zu viel Nähe ist in einer Arzt-Patienten-Beziehung in aller Regel kritisch. Man nennt das auch das Rettungsschwimmer-Prinzip: Als Rettungsschwimmer müssen Sie eine ganz bestimmte Distanz einhalten, um wirksam Hilfe leisten zu können – sonst werden Sie selbst in die Tiefe gezogen. Andererseits müssen Sie aber auch dicht genug am Gegenüber sein, damit eine Rettung möglich ist. Ganz ähnlich bei einem solch intimen Interview. Ich muss ganz nah an Sie herankommen, um nachvollziehen zu können, was Sie bewegt – auf der anderen Seite darf ich jetzt auch nicht zu sehr als Mensch agieren, um Ihnen auch künftig noch ausreichend helfen zu können.
Es gibt demnach als Arzt mitunter ein Zuviel an Nähe. Ist Ihnen das schon mal passiert?
Ich habe das bisher nie zugelassen. Es gab in den letzten zwanzig Jahren durchaus mehrere Einladungen zu Familienfeiern oder – bei der ALS ist das ein wichtiges Thema – sogar zu Beerdigungen, und das habe ich dann auch stets aus exakt den Gründen…