Berlinale 2020

38 % statt 5050x2020

Sidney Flanigan- Never Rarely Sometimes Always, Foto: © 2019 Courtesy of Focus Features

Die Frauen bei den 70. Internationalen Filmfestspielen Berlin

Mit einem tiefempfundenen „Oh, Fuck it!“ brachte es Cate Blanchett auf den Punkt. Eine Sekunde später war sie physisch zehn Zentimeter kleiner, an Ansehen fünf Meter gewachsen und sichtlich erleichtert, als sie barfuß zu ihrem Sitz im Zoo-Palast ging - die teuren High Heels mit der linken Hand schwenkend. Ja, Frauen können immer noch formschön lächelnd einen Film präsentieren. Aber hey, fuck it, ihre Hauptaufgabe ist das nicht mehr.

Blanchett etwa kam als Ko-Produzentin und Nebendarstellerin des australischen Netflix-Sechsteilers „Stateless“ nach Berlin, brachte die ersten zwei Episoden des Flüchtling-Dramas mit und die Warnung, dass dem Menschenrecht auf Asyl droht ausgehöhlt zu werden. Wir alle seien aufgefordert, eben das zu verhindern. Das seit 2016 angestrebte Ziel, wonach die Hälfte aller Filme eines Festivals von Frauen inszeniert sein soll, wurde von der Berlinale 2020 mit 38% stark unterlaufen. Das ist sogar weniger als letztes Jahr. Gestiegen hingegen ist die Qualität der Produktionen von und mit Frauen im Zentrum. Stark ist auch das Selbstbewusstsein, mit dem sie dabei zu Werke gingen. „Saudi Runaway“ in der Sektion Panorama Dokumente sticht dabei besonders heraus, gedreht mit zwei Smartphones von einer fluchtwilligen, jungen Frau in Dschiddah kurz vor ihrer Zwangsverheiratung. Die Schweizer Regisseurin Susanne Meures hat ihr per Internet dabei geholfen, die Situation möglichst heimlich und umfassend zu dokumentieren. Die daraus resultierenden Einsichten ins Familien- und Seelenleben von Frauen in Saudi Arabien gehört zum Spannendsten dieses Filmfests.
Erstaunlich offen gibt sich auch Hillary Rodham Clinton in der mehr als vierständigen Doku „Hillary“ – zumindest was das Private angeht. Genau darauf hatte Regisseurin Nanette Burstein auch ihr Augenmerk gelegt: Hillary als First Lady und gleichzeitig betrogene Ehefrau, bewundert und verhasst. Unverhohlen Wahlkampf machte sich stattdessen während der Pressekonferenz und rannte mit verbalen Attacken auf den aktuellen POTUS offene Türen bei den Anwesenden ein. In eine andere, nicht weniger ambivalente Biographie gräbt sich die britische Regisseurin Josephine Decker in „Shirley“. Das dichtgewebte Drama konzentriert sich mehr auf ihr schwer gestörtes Eheleben mit einem Literaturdozenten statt dem, wofür die Titelheldin Shirley Jackson in den 50er und 60er Jahren berühmt war: Über 200 Kurzgeschichten und sechs Romane, darunter die literarische Horrorgeschichte „Spuk in Hill House“. Mit Elisabeth Moss in der Titelrolle wäre „Shirley“ in derselben Preisklasse die mutigere Alternative zum harmlosen Eröffnungsfilm „My Salinger Year“ gewesen.
Im Wettbewerb indes hat sich „Never Rarely Sometimes Always“ ganz nach vorne in der Gunst von Publikum und Kritikern geschossen. Ohne künstliche Atmo-Verstärker wie Pop-Songs, Weichzeichner oder dynamische Schnitte hat Eliza Hittman nach eigenem Buch drei Tage im Leben der 17-jährigen Autumn (Sidney Flanigan) und ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) inszeniert. Es sind einschneidende Stunden im Leben der beiden Mädchen aus Pennsylvania, in denen Autumn erfährt, dass sie schwanger ist und Skylar sie zur Abtreibung nach New York begleitet. Angesiedelt zwischen Angst und Übermut, Doku und Teenie-Traum ist „Never Rarely…“ nicht nur ein großartig gemachter Spielfilm, der am 20.6. in den hiesigen Kinos startet, sondern auch ein wichtiges Statement zur Selbstbestimmung der Frau. Eines, das womöglich sogar Jury-Präsident Jeremy Irons über seine Richtigstellung zu Beginn des Festivals („Ich begrüße von ganzem Herzen das Recht der Frau auf Abtreibung“) hinaus erkennen lässt, wie völlig undurchdacht und unnötig es einst von ihm war, seine ungefragte Meinung, Abtreibung sei Sünde, in die Welt hinaus zu posaunen. Dazu fällt einem wirklich nichts anderes als Cate Blanchett ein. Das aber auch wirklich gern und tief empfunden.

Edda Bauer