Rubrik: Handverlesen
Dem Leben auf der Spur
Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben. Aus diesem Grund stellen wir ihnen in unserer neuen Rubrik "Handverlesen" diesen Monat sechs Bücher vor, die sich dieser Thematik auf ganz unterschiedliche Weise widmen - und neben den Höhen, auch die Tiefen des Lebens nicht aussparen. Diesmal mit dabei: Stephanie Bishop, Bernhard Schlink, Nell Zink, Jörg Hartmann, Susanne Abel und Daniela Krien.
01. Stephanie Bishop
Der Jahrestag
dtv / 464 Seiten
Um die Wogen zu glätten, geht es für ein krisengeplagtes Ehepaar auf eine Kreuzfahrt nach Japan. Sonne, Cocktails, Versöhnungssex – Klischees treffen auf jede Menge Kitsch zu Beginn von Stephanie Bishops neuem Roman. Die Australierin schreibt über das Schicksal einer erfolgreichen Schriftstellerin, die als Studentin eine verruchte Beziehung mit ihrem Dozenten anfängt – einem inzwischen nicht mehr so erfolgreichen Drehbuchautoren. Zurück im Jetzt entwickelt die ansonsten recht klischeebeladene Liebesgeschichte einen Sog, den sie bis zum Schluss halten kann. Nach ein paar Drinks zu viel kommt es auf dem Schiff während eines heftigen Sturms zum Streit: Er geht über Bord. Unerwartet nimmt die Geschichte eine dramatische Wendung. Gemeinsam mit der Protagonistin stehen wir unter Schock, mit ihr hoffen wir, dass ihr Mann lebend geborgen wird. Doch schon am nächsten Tag sind die Zeitungen voll von Meldungen zum Tod des Drehbuchautors – so ist es, wenn jemand Berühmtes stirbt … die Schriftstellerin muss sich nun unangenehmen Verhören stellen und geht tapfer trotz Kummer und Schmerz zu der ihr so wichtigen Preisverleihung. Gedanklich driftet sie immer wieder ab und so durchleben wir mit ihr den aktuellen Prozess (auch körperlich!), schauen auch zurück in ihre Vergangenheit. Trotz einiger etwas platt daherkommender Szenen, etwas aufgesetzt wirkendenden literarischen Bezüge, schafft Bishop es, spannungsgeladen und mit jeder Menge Einfühlungsvermögen über 400 Seiten gekonnt zu unterhalten.
Maria Nowotnick
02. Bernhard Schlink
Das späte Leben
Diogenes / 240 Seiten
In "Das späte Leben" umkreist der gefeierte Bestsellerautor Bernhard Schlink ("Die Enkelin") auf 240 Seiten mit entwaffnender Ehrlichkeit eine der umstrittensten Fragen der Menschheit: Was bleibt von einer Person nach deren Ableben? Schlink verhandelt den Moment zwischen Leben und Tod am Leben des 76-jährigen Martin, der von seinem Arzt mit einer schwerwiegenden Diagnose konfrontiert wird: Er hat Krebs im Endstadium und wird nur noch wenige Monate leben. Ein Satz, der Martin und seiner Familie den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Krankheit reißt nicht nur ein tiefes Loch in die Idylle, die bis dahin Martins Alltag bestimmt hat, sondern lässt ihn auch sein bisheriges Leben mit einem Mal in Frage stellen. Seine Lebensgefährtin ist eine erfolgreiche Künstlerin, er ein Senior, der vor allem für den Haushalt und den sechsjährigen Sohn zuständig war und nebenbei seiner Liebe zum Schreiben nachgegangen ist. Aber welche Bedeutung hat das alles, wenn man sich seiner Vergänglichkeit bewusst und auf seine Urängste zurückgeworfen wird? War in „Abschiedsfarben“ die Konfrontation mit der Vergangenheit das übergreifende Thema, ist der Blick in „Das späte Leben“ gen Zukunft gerichtet. Durch den bevorstehenden Tod Martins tritt die Zukunft seines Sohnes David und die seiner Frau in den Vordergrund. Wie kann Martin sie bestmöglich versorgen, was kann und soll er ihnen mitgeben? Dabei geht es nicht nur um Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, sondern auch und vor allem um Werte und die Frage, was helfen, was aber auch zu einer Belastung werden kann. Kurz vor seinem Tod muss Martin, der schlichtweg alles richtig machen will, sich noch einigen Überraschungen und Herausforderungen stellen. Ein ergreifendes Buch, das sich mit nichts Geringerem als der Bedeutung des Lebens auseinandersetzt und gleichzeitig mit dem Tabuthema Tod bricht, das nach wie vor oft lieber verdrängt wird.
Lisa Elsen
03. Nell Zink
Avalon
Rowohlt / 272 Seiten
Die junge Bran wächst nach dem Tod ihrer Mutter bei einer Familie auf, die eine Pflanzengärtnerei betreibt. Tagsüber wäscht sie Fungizidrückstände von Palmen, nachts schläft sie in einem ungeheizten Verschlag und träumt davon, Drehbücher zu schreiben. Um der brutalen Atmosphäre zu entkommen, haust sie bald in ihrem Auto und hält sich mit verschiedenen Jobs über Wasser. Perspektivlosigkeit breitet sich aus. Als Bran sich in den intellektuellen Peter verliebt, wird ihr bisheriges Leben endgültig infrage gestellt. Zinks sechster Roman erzählt an der Oberfläche eine konventionelle Liebesgeschichte, verhandelt darunter aber Themen wie soziale Herkunft und destruktive Familiendynamiken. Dabei wirft die Autorin einen humorvoll-empathischen Blick auf bedrückende Zustände. Immer wieder scheinen auch ihre eigenen Prägungen durch, hat Zink vor ihrem literarischen Erfolg doch bereits als Maurerin, Sekretärin oder Übersetzerin gearbeitet. Eine packende Entwicklungsgeschichte mit wunderbar eigensinniger Heldin.
Paula Schweers
04. Jörg Hartmann
Der Lärm des Lebens
Rowohlt / 304 Seiten
Der gefeierte Schauspieler Jörg Hartmann legt mit seinem Buch «Der Lärm des Lebens» das eindrückliche Panorama einer Familie im 20. Jahrhundert vor; eine Geschichte, die sich um sein eigenes Aufwachsen im Ruhrgebiet entspinnt. Seine Kindheitserinnerungen schildert er ebenso berührend wie eindringlich, spannt den Bogen von der Geschichte seinen gehörlosen Großeltern im Nationalsozialismus, bis zu den eigenen Eltern. So geht es um die Lebensklugheit seiner Mutter, die für kurze Zeit eine Immbisbude betrieb – aber auch um die Demenzerkrankung seines Vaters, der Dreher und leidenschaftlicher Handballer war. Eine Erzählung zwischen Tragik und Komik, die auf der schmalen Achse dieser beiden Pole balanciert, ohne den Halt zu verlieren. Das ist nicht zuletzt Hartmanns kraftvollen Erzählton geschuldet, der sich als persönlich und humorvoll präsentiert – allerdings, ohne in Sentimentalitäten abzudriften. Über all dem steht die Frage: Warum kehren wir immer wieder zu unseren Wurzeln zurück? Dabei geht es dem Schauspieler vordergründig darum, die Schönheit Lebens in seiner Gänze zu fassen – vom Anfang bis zum Ende, von der Wiege bis zur Bahre. Lisa Elsen
05. Susanne Abel
Was ich nie gesagt habe
dtv / 574 Seiten
2021 widmete sich Susanne Abel in ihrem Debütroman „Stay away from Gretchen“ der 84-jährigen Greta, zeichnete das Leben ihrer Protagonistin anhand einschneidender Lebenslinien nach – zwischen Ostpreußen, der Flucht in den Westen nach dem Krieg und ihrer Beziehung zu einem afroamerikanischen Soldaten, von dem sie schwanger wird. Eine Adoption ihrer Tochter in die USA: ein ebenso unausweichliche wie folgenreiche Entscheidung für die 18-jährige. Denn Jahrzehnte später wird es ihr Sohn Tom sein - als Nachrichtensprecher ebenso erfolgreich wie als Familienmensch ungeeignet - der in die Vergangenheit seiner an Demenz erkrankten Mutter eintaucht. Den Bogen über zwei Zeitebenen gestreckt, gelang Susanne Abel mit ihrem Debütroman die ebenso sensible wie eindrückliche Schilderung einer Familienchronik, die sich aus Geheimnissen, Unausgesprochenem und der Suche nach dem eigenen Glück in den Wirren familiärer Verstrickungen zusammensetzt. In ihrem nun ebenfalls als Taschenbuch erschienen Roman „Was ich nie gesagt habe“ (2022), nimmt Abel den Faden ihrer Geschichte wieder auf. Allerdings rückt sie diesmal weniger Toms Mutter, als vielmehr dessen verstorbenen Vater Konrad ins Zentrum der Geschehnisse. Seine Kriegserlebnisse und sein Beruf als Gynäkologe bilden jedoch nur den Rahmen für die eigentliche Handlung, nämlich die sich wandelnde Identität eines Menschen, angestoßen durch das Finden der eigenen Wurzeln. Denn Tom verändert sich; seine Haltung zur Familie und zu seiner eigenen Person wird eine andere. Der Stein, der diesen Entwicklungsprozess ins Rollen bringt: Toms Aufeinandertreffen mit Henk, seinem Halbbruder. Dieser will mehr über den gemeinsamen Vater erfahren - eine Entscheidung, die nicht ohne Folgen bleiben und die Familienkonstellation der Monderaths erneut auf den Kopf stellen wird. Wer war sein Vater - und hat er seine Position als Arzt für persönliche Belange missbraucht? Ein Roman, der anhand der Auseinandersetzung mit dem Thema des transgenerationellen Traumata am Ende zwei Fragen aufwirft: Was hält Familie im Kern zusammen und wieweit darf die Reproduktionsmedizin gehen, ohne dabei die Grundsätze der Ethik zu verletzen?
Lisa Elsen
06. Daniela Krien
Mein drittes Leben
Diogenes Verlag / 294 Seiten
Linda hatte Glück im Leben: Sie hatte einen Beruf, den sie mochte und einen Mann, den sie liebte. Sie hatte eine Tochter, die kerngesund war und die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Doch dann zerstört ein Moment der Unachtsamkeit Lindas ganzes Lebensglück: Der Fahrer eines Zwölftonner-LKWs übersieht beim Abbiegen eine Rennradfahrerin – und reißt die Siebzehnjährige aus dem Leben. Den Verlust ihrer einzigen Tochter verkraftet Linda nicht. Sie fällt und fällt und lässt dabei alles los, was ihr einmal wichtig war: ihre Arbeit als Kuratorin, ihren Ehemann, ihre Freundinnen, ihr gut situiertes Leben in Leipzig. Als sie alles verloren hat, bleiben ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie erhöht die Dosis ihrer Schlaftabletten und verabschiedet sich von der Welt. Oder sie setzt ihr zerbrochenes Ich wieder zusammen und kehrt als neuer Mensch zurück. »Mein drittes Leben« ist eine Chronik der Trauer, für die man gewappnet sein sollte. Empathisch und intensiv erzählt die Bestsellerautorin darin von Verlust, Isolation und Abhängigkeit. Gerade noch rechtzeitig kriegt die Protagonistin die Kurve – und die Erzählung entfaltet einen überraschenden, helleren Klang, dem man gerne noch länger lauschen würde. Ähnlich wie Kriens vorheriger Bestseller »Die Liebe im Ernstfall« lässt sich auch dieser Roman als Verneigung vor Frauen verstehen, die sich von der Härte ihres Schicksals nicht brechen lassen. Von diesem Frauentypus – der unperfekten Heldin von nebenan – lässt sich beim Lesen viel Kluges lernen.
Anna Chiara Doil
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